Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
Olga.
»Vincent war bei der Jagd mit dem Pferd gestürzt und hatte sich den Fuß verstaucht«, erinnerte Roman sich.»Ich hatte ihm einen Stock verpasst. Heinrich stand mittlerweile ziemlich nah an der Felskante. Er verstand immer noch nicht, was Vincent vorhatte.«
Romans Augen ruhten auf Olga. »Als ich oben am Felsen ankam, hob Vincent gerade seinen Stock und drückte ihn gegen Heinrichs Brust. Der versuchte, sich an dem Stock festzuhalten, doch Vincent stieß und ließ den Stock los. Dann drehte er sich um und ging nach Hause. Ohne uns anzusehen.«
»Er hat noch versucht, nach mir zu greifen«, rief Luis und streckte die Arme aus. Olga spürte, dass er in diesem Augenblick alles noch einmal erlebte. »Aber … es ging so schnell. Ich konnte nichts mehr machen. Er hat überhaupt nicht geschrien. Er war ganz ruhig, als er da runterfiel.«
In Olgas Kopf wirbelten Tausende von Fragen durcheinander. Sie schloss wieder die Augen.
»Was hast du gemacht, Papa?«
»Ich bin zur Kante gelaufen und habe gesehen, dass er genau auf dem großen Moosflecken lag. Einen Moment lang dachte ich, dass er vielleicht noch leben könnte. Aber so verdreht wie sein Körper dalag, war mir klar, dass er sich das Genick gebrochen hatte.«
»Aber hast du uns denn nicht gesehen?«, fragte sie. »Auf unserem Floß?«
Roman seufzte und schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, von hier unten bis hinauf zu dem Plateau ist es ein Stück zu laufen. Wenn man dort oben sitzt, kriegt das unten am See niemand mit. Gesehen habe ich nichts. Ich habe einen Schrei von einem Kind gehört. Und Kinderlachen. Was meinst du, wie erschrocken ich war, als Thorvald abends mit seinem Gips ankam. Ich wusste natürlich sofort, dass ihr am See wart.«
»Warum seid ihr nicht zur Polizei gegangen?«, fragte Olga.
Roman schwieg eine ganze Weile. »Wer nicht gleich zur Polizei geht«, sagte er schließlich, »der tut es überhaupt nicht.« Dann drehte er sich um und schaute auf die Klippen. »Er war mein Vater. Bis dahin war er doch mein Vater.« Er atmete tief ein. »Ich bin zurückgekommen und habe ihn unter dem Moos vergraben. Luis kam später dazu und hat mir geholfen.«
Er packte Luis an der Schulter. »Obwohl ich ihn immer wieder nach Hause geschickt habe. Aber er war damals schon ein sturer Bock.«
Thorvald schüttelte den Kopf. Er begriff nicht. Er war in den letzten Tagen mit Wagners Erik beschäftigt gewesen. Und mit Benno.
»Was hast du überhaupt damit zu tun, Luis? Und Juliane? Ihr hattet gar nichts miteinander?«
»Nur einmal, ich konnte einfach nicht widerstehen. Aber habt ihr wirklich geglaubt, ich hätte Hanna wegen so einer verlassen?«
»Ja, klar«, entgegnete Thorvald. »Sofort.«
Olga sah ihn kurz an. Für einen Sekundenbruchteil war sie abgelenkt und sah Thorvald plötzlich so, wie er wirklich war. Ein simpler Held, der sich in der Damenwelt nach Belieben bediente. Ohne schlechtes Gewissen und Rücksicht.
Sie rieb sich die Augen, um wieder zu sich zu kommen. Sie sah nicht nur ihr Verhältnis zu Thorvald mit einem Mal klar und deutlich. In ihr öffnete sich der Vorhang, der die Bühne des Geschehens hier im Wald bisher verborgen gehalten hatte.
»Juli muss bei den Recherchen über unsere Familie auf Heinrich Hagenberg gestoßen sein«, sagte Olga. »JenenMann, den sie als Kind im Moos gesehen hat. Sie dachte, er schliefe. Sie hat sich an ihm vorbeigeschlichen, weil sie sich den kleinen Spaß mit Thorvald ausgedacht hatte. Vielleicht hat sie euch alle gesehen. Dreißig Jahre später ist sie Journalistin und arbeitet an unserer Familienchronik. Sie forscht nach, sie erinnert sich, sie kombiniert, sie stellt fest, dass es da eine Verbindung gibt. Eindeutige Spuren. Und dreißig Jahre sind für sie keine Barriere. Der Film mit unserem kleinen Floßabenteuer liegt ordentlich archiviert in ihrem Kopf.«
Olga dachte an die Notizen, die Ines entziffert hatte.
»Und dann ist Klassentreffen. Ihre große Chance. Sie trifft auf einen Schlag alle Beteiligten. Ach … sie muss einen Freudensprung gemacht haben, als sie die Einladung erhalten hat. Sie würde endlich ihre Lücken füllen können. Sie erzählt von dem Floßabenteuer, macht Andeutungen, bekommt auch noch Fotos serviert. Und sie erhofft sich Informationen, die nur eine Polizistin ihr beschaffen konnte: Ines Sadur, ihre Schulfreundin.«
Sie wandte sich an ihren Vater. »Seit wann wusstest du, was Juliane vorhatte?«
Roman kratzte sich am Kopf und seufzte. »Ich wusste es gar
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