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Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget

Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget

Titel: Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Tessendorf
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Skandinavier inzwischen mit prall gefüllten Plastiktüten herumliefen, dachte sie daran, dass sie Thorvald ein T-Shirt besorgen sollte.
    Sie brachte es nicht übers Herz, Thorvald zu wecken. Er lag auf der Rückbank, ein Bein angewinkelt, den ausgestreckten Arm neben dem Kopf an das Fenster gelehnt, so dass es von außen so aussah, als läge eine nicht mehr ganz frische Leiche im Wagen. Sie musste an Benno denken. Sie hatten sich nicht von ihm verabschiedet. Sie packte das T-Shirt aus und legte es auf die Kopfstütze des Fahrersitzes, bevor sie die Tür vorsichtig zudrückte.
     
    Der Duft von Blüten erfüllte die ganze Wohnung. Aus der halb geöffneten Badezimmertür strömten Nebelschleier,die den Duft des heiß dampfenden Badewassers überall hintrugen.
    Die oberste Schublade des Nachttisches in Vincent Ambachs Schlafzimmer war geöffnet. Aus dem Wohnzimmer ertönte Klaviermusik. Die beunruhigenden, doch zugleich tröstlichen Klänge von Schumanns ›Dichterliebe‹ vermischten sich mit dem Duft der Sommerblumen.
    Zwei kleine, geöffnete Schachteln und ein leeres Glasfläschchen lagen auf dem Tisch neben einer halb vollen Flasche Chardonnay. Der Spiegel im Bad war beschlagen. Ihre Versuche, die weiße Schicht mit der Hand wegzuwischen, waren wenig fruchtbar, weil die heiße, feuchte Luft sofort wieder auf der kalten Oberfläche kondensierte. Der Spiegel verweigerte die Abbildung des blassen, schmalen, gealterten Gesichts.
     
    »Was hast du vorhin im Wasser gesagt?«, fragte Olga. Sie war mit Thorvald aus der lauten und überfüllten Cafeteria auf das Sonnendeck zurückgekehrt. Müde, die Ellenbogen auf das Holz der Reling gestützt, verloren sich ihre Blicke in den unzähligen kleinen weißen Dreiecken der Segelboote, die in großer Entfernung ganz ruhig auf dem Wasser zu schweben schienen.
    »Dass ich dich noch drankriege. Dass   …«
    »…   über Ophelia!«, unterbrach Olga ihn.
    »Einer Leiche ausgesprochen unähnlich treibt Ophelia durch den Wassergarten?«
    »Kennst du das Bild der Ophelia von Millais?«
    »Das mit den vielen Blumen?«, fragte Thorvald.
    »Ich habe dieses Bild gesehen«, sagte Olga nachdenklich. »Ich weiß aber nicht mehr wo. Die ganze Zeit schon denke ich darüber nach.«
    »Bei Benno«, sagte Thorvald. »Auf seinem Tisch lag einBildband über die Präraffaeliten. Auf dem Umschlag war die Ophelia abgebildet. Ich habe es auch gesehen. Man sagt, Millais habe ein halbes Jahr nur an den Pflanzen gearbeitet. Und doch ist es keine botanische Studie, sondern Malerei. Richtig gute Malerei.«
    Olga zog ihre Zeichnung aus der Tasche und faltete sie auseinander. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nicht bei Benno   … vor allem aber ist das Bild eine romantische Todesverklärung. Millais‘ Modell hat gelebt. Sie ist zwar beinahe an Unterkühlung gestorben, aber sie lebte. Und ihr Gesicht ist über dem Wasser.«
    Olga reichte Thorvald die Zeichnung und sah ihn an. »Juliane lag mit dem Gesicht unter der Wasseroberfläche. Nur zwei Finger breit. Aber das ist der feine Unterschied:
Sie
ist ertrunken.«
    Sie schaute lange in die Ferne. »Nur   … Luis war das nicht.« Sie hielt Daumen und Zeigefinger zwei Zentimeter auseinander. »So hoch war das Wasser.«
    Thorvald hielt die Zeichnung in die Luft. »Natürlich war er das nicht.« Dann ließ er sie los. »Ich bin sehr gespannt, wie er da wieder rauskommt.«
    Das kleine Stück Papier flatterte wie ein angeschossener Vogel in der Luft herum, bevor es in der weißen, gischtenden Wasserstraße am Heck des Schiffes verschwand.
     
    Sie hatte den Zopf geöffnet und die langen weißen Haare sorgsam gebürstet. Wie zwei Gletscher lagen sie auf ihren schmalen Schultern. Ihr Gesicht verblasste immer wieder in den Nebelschleiern. Sie musste sich am Waschtisch festhalten, weil ihr Gleichgewichtssinn und ihre Kraft schwanden. In ihrem Kopf machte sich ein warmer Druck breit, die Wirkung der vielen Schlaftabletten setzte schneller ein, als sie erwartet hatte. Die Augen wurden schwer undmüde. Vorsichtig drehte sie sich um und hob das rechte Bein. Mit dem Fuß fühlte sie die Temperatur, dann tauchte sie ihn langsam zwischen den Mohnblüten, den Gänseblümchen und dem Hahnenfuß in das heiße Wasser ein.
    Die Haare hatten sich aus der kalten Starre gelöst und schmolzen zwischen den bunten Blumen dahin. Sie schloss die Augen. Sie lag bewegungslos da. Nur der Puls ihrer Halsschlagader verursachte gleichmäßige kleine Wellen und ließ die Blüten sanft

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