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Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget

Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget

Titel: Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Tessendorf
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sich auf eine umgestürzte Buche. Das Sonnenlicht schimmerte gelblich durch die Baumkronen und ließ auf dem Moos, das den Stamm mit kleinen Inselchen bedeckte, goldene Lichtflecken tanzen.
    Sie holte ihren Skizzenblock hervor und betrachtete den Baumstamm genau. Er eignete sich hervorragend für eine Texturstudie. Die glatte silberne Rinde war an manchen Stellen aufgesprungen und hatte ein kleines Biotop gebildet. Der ganze Wald im Miniaturformat war darauf zu finden.
    Die Zeit verstrich. Irgendwann bemerkte Olga, dass sich das Licht verändert hatte. Sie verstaute ihre Zeichenutensilien und erhob sich langsam. Die glatten, kerzengeraden Stämme der Buchen schufen das Innere einer Kathedrale, in die sie aufmerksam und ehrfurchtsvoll eintrat. Hier war es still. Wie von allen vergessen standen die schlanken Säulen da. In den Himmel strebend und fest im Erdreich verwachsen. Olga legte den Kopf in den Nacken und suchte die Baumkronen ab. Sie liebte dieses kleine intakte Refugium, das einem vorgaukelte, die Welt wäre vollkommen und in Ordnung. Und sie durfte daran teilhaben.
    Eine fette blaue Schmeißfliege brummte an ihr vorbei, und der faulig-süßliche Geruch der Stinkmorcheln zog in Schwaden über den Waldboden, bemüht, mit dem verlockenden Duft Fliegen und Mistkäfer anzulocken.
    Langsam ging Olga durch den Wald, um Ausschau nach diesen phallischen Gewächsen zu halten. Schließlich gelangte sie an die Stelle, wo sich der Bach durch natürliche Stauung zu einem kleinen blanken Teich geweitet hatte. Gerade so groß, dass ein Erwachsener bequem darin Platz fand.
    Ruhig schimmerte das dunkle Wasser durch die üppiggewachsenen Farne, die dieses geheime Kleinod vom Wald abschirmten. Ein Fremder, der nichts von diesem kleinen Gewässer wusste, bemerkte es nicht, auch wenn er abseits der Wege unterwegs war.
    Beim Anblick des Wassers überkam Olga ein starkes Verlangen nach Abkühlung. Sie überlegte, ob sie sich einfach ausziehen und ins Wasser legen sollte. Nur der Gedanke an den großen Hund hielt sie davon ab.
    Plötzlich entdeckte Olga durch die großen Farnwedeln hindurch etwas Blaugrünes. Mit der Kamera um den Hals und mit wedelnder Hand die dicken Fliegen verscheuchend, bahnte Olga sich den Weg durch die grüne Barriere hin zum Wasser. Unzählige Pilze hatten sich hier ihr Refugium gesucht und stanken so intensiv, dass sie auf Olga wie ein frisch injiziertes, starkes Betäubungsmittel wirkten, das alles andere aus ihrem Bewusstsein verdrängte.
    Langsam, als sähe sie sich selbst in einem Traum, sank sie in die Knie und blieb am Bachrand sitzen. Olga wurde seltsam ruhig. Die Fliegen hatten aufgehört zu brummen, die Insekten verstummten, das Wasser floss geräuschlos den Berg hinab. Aus dem Wald drang kein einziges Geräusch mehr. Jemand hatte den Ton abgestellt.
    Leicht wiegten sich die grasartigen Wasserpflanzen in der Strömung und flochten das lange, dunkle Haar mit in die Wellenbewegung hinein. Das Wasser strich leise über das nach oben gewandte Gesicht, und das blaugrüne Kleid ließ den Eindruck entstehen, als gehörte die Frau hierher, als wäre nur hier ihre Welt. Gleich würde sie sich vorsichtig regen und sich mit sanften Flossenschlägen davonschlängeln.
    Doch Juliane regte sich nicht. Viel zu lange schon lag ihr Gesicht mit den geschlossenen Augen unter der dünnenHaut aus Wasser. Zufrieden, nicht der quälenden Hitze ausgeliefert zu sein, tief schlafend in dem klaren Wasser, das ihre fröhliche Seele längst die vielen Windungen des kleinen Baches hinabgetragen hatte.
     
    Wie lange Olga schon am Wasser gehockt war, hätte sie nicht zu sagen vermocht. Ihr Zeitgefühl hatte eine andere Dimension angenommen, war wie verzerrt. Das Licht hatte sich leicht verändert, die Schatten waren länger geworden. Aufmerksam betrachtete Olga die Pilze und die Fliegen, den Geruch nahm sie nicht mehr wahr, er hatte seine betäubende Wirkung entfaltet.
    Reglos schaute sie auf die Frau im Wasser, die sie so gut kannte und für die sie plötzlich nichts mehr empfand. Sie lebte nicht mehr. Das war alles. Wieso spürte Olga nichts? Keine Angst, kein Entsetzen. Sie müsste doch jetzt laut schreiend durch den Wald rennen, über eine Wurzel stolpern, hinfallen, sich wieder aufrappeln, weiterrennen bis zum nächsten Haus und dort an der Tür zusammenbrechen.
    Ein lautes Knacken der Äste hinter dem hohen Farn ließ sie zusammenfahren. Was tat sie hier? Sie musste Hilfe holen! Wie aus einem Traum erwacht, erhob sich Olga.

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