Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
Langsam löste sie sich aus ihrer Starre, griff zitternd nach ihrem Rucksack. Vielleicht war Juliane gar keines natürlichen Todes gestorben? Lag hier vielleicht noch jemand auf der Lauer? Der Mörder? Vielleicht war Juliane ja erst Sekunden vor Olgas Erscheinen getötet worden und der Mörder hatte nicht genügend Zeit gehabt, um wegzulaufen? Was, wenn er seine Inszenierung der schönen Ophelia in ihrem Grab aus Blumen und Wasser noch genießen wollte? Warum war ihr das nicht früher eingefallen?
Olga sprang auf und lief in den Wald zurück. Sie musste an die Nacht des Klassentreffens denken, als sie mit Juliane am See gelegen war. An das Knacken der Äste.
Es war ruhig. Kein Spaziergänger, kein Hund. Sie blieb stehen. Ihr Herz schlug so laut, dass es alle anderen Geräusche übertönte. Wenn es jemand auf sie abgesehen hätte, dann jetzt. Sie drehte sich um. Hinter jedem der Bäume konnte sich jemand versteckt haben. Sie drehte sich weiter und atmete schwer. Er könnte sich jetzt von dem Baum lösen und auf sie zugehen. Was würde sie tun? Rennen? Vermutlich. Sie war eine gute Läuferin, das wusste sie, darauf konnte sie sich verlassen.
Dann ein Knacken. Und wieder.
Erst als sie Stimmen hörte, brach Olga innerlich zusammen. Es war eine muntere Truppe Best Agers, die mit Nordic-Walking-Stöcken unterwegs waren. Die hatten bestimmt ein Handy dabei.
Kriminalhauptkommissar Martin Kirschbaum bahnte sich einen Weg durch die Absperrungen und ging auf eine Gruppe Leute in weißen Overalls zu, die damit beschäftigt waren, die Umgebung abzusuchen. Einer von ihnen hielt etwas in der Hand und die anderen beugten sich darüber, so als ob der Leiter einer naturkundlichen Wanderung einen seltenen Frosch gefunden hätte und den aufmerksamen Teilnehmern nun Art, Gattung und besondere Merkmale erläuterte.
Olga saß etwas abseits auf einem Baumstumpf und betrachtete das Geschehen wie durch den Sucher ihrer Digitalkamera. Sie sah die vielen Menschen, die plötzlich da waren. Es wurden immer mehr. Sie trugen weiße Overalls und sahen alle gleich aus. In Zeitlupe gingen sie auf und ab, als folgten sie einer Choreografie.
Olga funktionierte irgendwie. Konnte gehen, sprechen und sich wieder hinsetzen. Aber nur, weil der Autopilot eingeschaltet war. Ohne dieses Korsett aus schockhafter Betäubtheit hätte sie nicht so gefasst hier sitzen können, sie wäre heulend zusammengebrochen und hätte sich nie mehr beruhigt. Eine bleierne Müdigkeit legte sich über sie, am liebsten hätte sie sich wieder in ihr Bett gelegt. Die Bergische Hitze legte Olgas Kreislauf lahm, das war schon immer so gewesen.
Die Fragen des Kommissars, professionell einfühlsam, doch Punkt für Punkt gestellt, konnte sie ordentlich beantworten. Aber beide wussten natürlich, dass das Gespräch erst später interessant werden würde, wenn Olga alle Facetten des Todes ihrer Klassenkameradin Juliane noch einmal durchlebt haben würde und der Ausnahmezustand vorbei wäre. Dann würde auch die Erinnerung wieder einsetzen. Erinnerungen an all die Kleinigkeiten, die man unbewusst mitbekam und zunächst nicht weiter beachtete, später aber gezielt zu Deutungen einer bestimmten Situation verwenden konnte. All diese scheinbar unbedeutenden Vorkommnisse, nebensächlichen Bemerkungen oder Beobachtungen, die ihr aufgefallen waren, seit sie den Weg zu ihren Kindheitserinnerungen hinaufgeklettert war.
Darauf setzte Kirschbaum. Und Olga auch. Was war hier geschehen? Warum? Und wo waren die anderen? Wo, verdammt noch mal, blieb Thorvald?
Olga stand auf, nahm ihren Rucksack und ging langsam los. Sie ging einfach. Sofort war Kirschbaum wieder an ihrer Seite.
»Sie können gehen«, sagte er freundlich, ohne dass sie ihn danach gefragt hatte. »Ich begleite Sie, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Olga antwortete nicht.
»Haben Sie jemand, der sich um Sie kümmern kann?«
»Kümmern?« Olga schüttelte abwehrend den Kopf. »Ich bin nicht krank. Ich will nur meine Ruhe haben.«
»Natürlich, das kann ich gut verstehen.«
Olga fragte sich, was er jetzt dachte. Oder was er bereits wusste. Er hatte zwischendurch immer wieder telefoniert.
Schweigend erreichten sie die Jagdhütte. Olga wurde erst jetzt klar, dass Juliane ganz in ihrer Nähe gestorben war. Sie suchte im Rucksack nach dem Schlüssel. Aber sie brauchte ihn gar nicht, die Tür stand offen. Sie trat ein, ohne den Kriminalhauptkommissar hineinzubitten. Die Luft im Inneren war stickig. Olga nahm zwei Gläser und
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