Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
Rotkehlchen, Amseln und Singdrosseln zu lauschen.
Gegen Morgengrauen, als der Kuckuck schon zu hören war, glitten Olgas Gedanken in jene verborgenen Sphären ab, aus denen die Träume heraufsteigen, um sich mit ihnen zu verweben.
Plötzlich war eine Stimme zu hören: »Olga … Olga!«
Augenblicklich war Olga hellwach. Sie fühlte sich steif und ihr Rücken schmerzte. Sie hatte wohl nur wenige Minuten geschlafen, denn das Licht hatte sich kaum verändert. Der Ruf ihres Namens hallte noch deutlich nach.
Doch außer dem Gesang der Vögel und dem zufriedenen Glucksen des kleinen Bächleins, das an dem Haus vorbeigurgelte, war nichts mehr zu hören. Langsam richtete sie sich auf und spähte in den Wald.
Lautes Rascheln, das Knacken dünner Äste und schwere Schritte kündigten einen Besucher an. Das schützende Dickicht teilte sich und ließ den hellen Schopf Thorvalds sichtbar werden, der sie mit offenem Mund ansah.
»Hier bist du!«, sagte er, als er vor ihr stand. Er schien einen relativ klaren Kopf zu haben, obwohl er offensichtlich nicht den richtigen Weg zur Hütte genommen hatte.
»Wo sind die anderen?«, fragte Olga belustigt.
»Keine Ahnung, die waren auf einmal weg. Benno muss noch irgendwo …«, er reckte seinen Hals und zeigtenach links, »… er lief dahinten herum – ich weiß auch nicht – ist er nicht hier?«
»Nein«, lachte Olga.
Langsam ging Thorvald an der Hütte vorbei und verschwand dahinter. Als er auf der anderen Seite wieder auftauchte, war sein Gesichtsausdruck völlig verändert.
»Willkommen zu Hause!«, rief er mit erhobenen Armen. Er stand vor Olga und strahlte, die aufgehende Sonne im Rücken.
Es war schon Mittag, als Olga die Augen öffnete und sich in ihrem Bett aufsetzte. Thorvald lag in der anderen Zimmerecke, voll bekleidet auf der platten Luftmatratze. Offenbar hatte er den Stöpsel nicht fest genug in den Verschluss gesteckt.
Sie schlich auf Zehenspitzen die schmale Holztreppe hinunter und trat in den lichtdurchfluteten Raum, worüber sie sich im ersten Moment unbändig freute.
Aber die Freude über das Sonnenlicht, das jeden Winkel des Hauses eroberte, wich rasch der Ernüchterung, als ihr bewusst wurde, dass sich der blaue Strich des Thermometers auch heute wieder mühelos über die Dreißiggradmarke erheben würde. Schlagartig wurde ihr heiß. Sie öffnete die Tür und trat auf die schmale Holzveranda hinaus. Die Luft war schon jetzt drückend und zäh vor Feuchtigkeit. Es fiel ihr schwer, zu atmen. Sie beschloss, ein Glas Wasser zu trinken und sich noch einmal hinzulegen.
4
Olga packte ihre Kamera, den Zeichenblock und eine riesige Wasserflasche aus Kunststoff in den alten Rucksack und ging durch den Hohlweg, der an der Hütte vorbei in den Wald führte. Ihr Körper bewegte sich in Zeitlupe. Bloß nicht zu schnell und möglichst jede Anstrengung vermeiden. Es war erst zehn, und doch legte sich die Hitze bereits wie ein heißes Tuch auf Schultern und Arme, sobald die Sonne durch eine undichte Stelle im Blätterdach der hohen Buchen drang.
Sie hatte den ganzen Sonntag über geschlafen. Traumlos und bleiern. Abends hatte sie ein wenig von ihrem mitgebrachten Proviant gegessen und dann sofort weitergeschlafen. Einmal hatte sie geglaubt, im Halbschlaf die Stimme ihres Vaters gehört zu haben, oder hatte sie doch nur geträumt? Am Morgen hatte sie festgestellt, dass jemand in der Hütte gewesen sein musste, denn auf dem Tisch lagen frisches Brot und Marmelade. Jemand hatte sie mit Lebensmitteln versorgt und sie würde frühstücken können, ohne erst einzukaufen. Vermutlich hatte Thorvald die Sachen besorgt, bevor er sich auf den Weg zu Benno gemacht hatte.
Dürre trockene Äste und Blätter knisterten unter ihren Füßen. Alles war so trocken und zerbrechlich wie das Esspapier, das sie als Kinder in großen Mengen gegessen hatten. Plötzlich liefen sie wieder um sie herum. Thorvald auf Tito den Hohlweg entlangpreschend, die zerbrechliche Lissy und Benno, der beim Rennen immerwild mit den Armen ruderte, als wollte er einen Schwarm Mücken verscheuchen oder damit der überströmenden Lebensfreude eines kleinen fröhlichen Jungen Ausdruck geben. Sie hörte Lachen und Gejohle, Eselsgebrüll und Ritterfluchen. Jede Hohlwegbiegung, jeder Baum, der sprudelnde Bach ließ die Kindheitserinnerungen farbig und lebendig werden.
Olga blieb stehen. Diese Stelle hier war ihr Lieblingsplatz gewesen. Wie hatte sie ihn nur vergessen können? Sie setzte ihren Rucksack
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