Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
weiß er das bis heute nicht?«, fragte Hanna lachend.
»Doch klar, aber ich bin mir sicher, dass sie uns an dem Tag nicht gesehen haben, sonst hätten sie uns garantiert vom Floß geholt.« Olga überlegte angestrengt. »Also du willst … warte mal …«, sie rechnete nach, »wir müssen zehn, elf gewesen sein, also dreißig Jahre später willst du das noch wissen?«
»Ja. Ich habe ein extrem gutes Gedächtnis«, prahlte Juliane. »Ich kann mich an Dinge erinnern, die passiert sind, als ich gerade mal zweieinhalb Jahre alt war.«
»Jetzt übertreib mal nicht«, sagte Hanna. »Ich kann mich kaum noch an meine Konfirmation erinnern.«
»So ist es aber. Bestimmte Szenen sehe ich noch vor mir, als wären sie gestern passiert.«
»Dann hast du den richtigen Beruf gewählt. Wenn dumal deinen Block oder das Diktiergerät vergessen hast, schaltest du den Speicherchip in deinem Kopf ein«, lachte Hanna.
Ein lautes Knacken schreckte die Frauen erneut auf. Sie spähten in den Wald. Die dunkle Wand der Bäume hob sich deutlich vom See ab. Wieder ein Knacken, dann war es ruhig.
Olga rechnete damit, dass Thorvalds leuchtender Haarschopf jeden Moment aus dem Dunkel auftauchen würde oder Benno wieder irgendeinen Unfug plante, aber nichts geschah. Wenn dort jemand war, dann wollte er im Verborgenen bleiben, schoss es Olga durch den Kopf.
»Das war aber ein dickes Wildschwein«, sagte sie laut.
»Eins mit Taschenlampe.« Juliane stand auf. »Komm, lasst uns zurück ins ›Luis‹ gehen.«
Von der Veranda aus sahen sie durch das große Fenster in die Bar. Die Stimmung war fröhlich und ausgelassen. Thorvald stand auf einem Tisch und sang. Olga verstand nur »… Leberzirrhose von dem Bier aus der Dose …«. Die anderen klatschten, pfiffen und sangen mit. Benno aber saß völlig abwesend an der Bar, ein leeres Glas in der Hand. »Benno hat von eurer Hochzeit erfahren, stimmt’s?«, meinte Olga.
Hanna nickte traurig. »Ja. Und zwar nicht von mir. Irgendjemand hat es ihm erzählt und ich habe es sofort gemerkt. Seitdem schaut er mich so merkwürdig an. Ich hätte es ihm selbst sagen sollen.«
»Der Tanz ist eröffnet, meine Damen«, rief plötzlich jemand hinter ihnen und im selben Moment wurden die Frauen untergehakt und weggezogen. Freddy grinste Olga breit an. Er wusste, wie sehr sie das Aufgefordertwerden hasste. Auch Hanna war überrumpelt wordenund Schippe sah nicht so aus, als ob er sie auslassen würde. Drinnen saß keiner mehr an seinem Platz, das »Luis« tanzte. Die Nacht hatte gerade erst begonnen.
Olga aber hatte genug. Sie wollte zurück zur Hütte.
3
Olga saß auf den Stufen zur Veranda der Jagdhütte und sah auf die gemähte Wiese und das dichte Gestrüpp dahinter. Es schien das kleine Anwesen der Familie Ambach von der Außenwelt abzuschirmen. Bennos Vater, Konrad Thalbach, hatte sich bemüht, die wuchernden Pflanzen vom Hause fernzuhalten. Er hatte eine genauso liebevolle Beziehung zu dem Häuschen entwickelt wie ihre Familie. Aber als wahrer Gartenkünstler war er nicht in der Lage, einfach nur den Rasen zu mähen. Er hatte einen Irrgarten angelegt, durchsetzt mit kleinen, versprengten Blüteninselchen, aus denen Schmetterlinge und Bienen zu wachsen schienen. War ein Busch zu üppig geworden, bekam er eine neue Frisur verpasst. Ein Strauch hatte sogar die Gestalt eines Esels. Und das durfte durchaus als Warnung verstanden werden, denn das lebende Vorbild, Hausesel Tito, war schon ein paarmal auf den vorbeiführenden Wanderweg gerannt und hatte die Wanderer getreten.
Kein Lüftchen regte sich, und Olga spürte bereits den nahenden Sonnenaufgang. Es war ein wenig kühler geworden, aber die Sonne würde die feuchte, drückende Luft bald erneut aufheizen.
Wo die anderen abgeblieben waren, wusste Olga nicht. Als sie die letzte Steigung erklommen hatte, sah sie zwei Schemen nahe der Hütte, die gerade im Wald verschwanden. Sie konnte nicht erkennen, wer es war, und achtete auch nicht weiter darauf, denn irgendwelche Partygäste waren immer wieder einmal nach draußen gegangen.Keiner hatte bisher gezielt den Weg hinauf zur Hütte genommen, obwohl alle wussten, dass es hier oben Schlafplätze gab.
Wie lange sie schon hier oben saß, wusste sie nicht. Sie hatte plötzlich Sehnsucht nach der Jagdhütte und nach Ruhe gehabt. Doch die Vögel gaben ein Konzert von solcher Intensität und so voller Inbrunst, dass sie sich eingeladen fühlte, auf der Veranda der einzigartigen Darbietung der
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