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Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget

Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget

Titel: Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Tessendorf
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ab. Unter den breiten Riemen war sie schweißnass. Lange schaute sie auf das riesige Mooskissen, das sich vor ihr im scheckigen Sonnenlicht ausbreitete. Es hatte im Laufe der Jahre beträchtlich an Größe zugenommen und bedeckte nun fast die ganze Mulde zwischen der alten Buche und dem Bach. Herrliches dichtes Ordenskissen bildete zusammen mit weichem Purpurmoos und gemeinem Kissenmoos ein Bett, wie man es sich im Paradies vorstellte.
    Sie musste an die Geschichte von dem faulen Waldarbeiter denken, der die meiste Zeit im Moos lag, anstatt zu arbeiten. Er lag da, schaute in die Baumkronen und den Himmel darüber, zählte die Mücken, lauschte dem Kuckuck oder dem Eichelhäher, bis er eines Tages vollkommen vom Moos überwuchert war. Und tatsächlich gab es weiter oben eine Stelle, dicht bei der alten Eiche, an der auf dem Boden der Umriss eines Menschen ganz deutlich zu erkennen war.
    Langsam ließ Olga sich nieder und streckte Arme und Beine weit von sich. Die Kühle, die das Moos aus dem Boden sog und unter ihrem Körper verbreitete, war wohltuend. Sie schaute in die bewegungslosen Baumkronen hinauf und gelangte in einen Zustand, wie sie ihn seit ihrer Kindheit nie mehr erlebt hatte. Alles um sie herumzog sich zurück, wurde kleiner, leiser und blasser. Das Moosbett trug sie in die Baumwipfel und wiegte sie sacht im wärmenden Licht.
    Die kleinen Lichtkugeln tanzten wie Mücken um sie herum und manche zerplatzten wie Seifenblasen, und aus den zersprengten Teilchen formten sich neue und tanzten weiter. Es wurden immer mehr, bis Olga sich in einem dichten Nebel wiederfand. Sie saß ganz allein auf dem Floß. Wo waren denn die anderen? Olga suchte das Dickicht oberhalb des Sees ab.
    »Wo seid ihr denn alle?«, hörte sie ihre eigene Stimme.
    Jemand stand am Ufer. »Hallo? – Wer bist du?«
    Angestrengt versuchte sie, die Person zu erkennen. Sie war groß. »Wer bist du denn?«
    »Wo ist das Loch?«
    Etwas Großes kam langsam auf sie zu. Der weiße Schwan tauchte aus dem Nebel auf und schwamm an ihr vorbei. Er sang ein Lied. Mit Thorvalds Stimme. Er sang so schön, dass Olga weinen musste.
    »Was denn für ein Loch?«
    »Das mit dem Schatz drin. Unten bei den Klippen.«
    »Warum habt ihr Ruben mit dem Floß rausgeschickt. Er ist ertrunken!«
    Das Brummen, das schon seit längerem über dem Traum lag, wurde energischer. Es schwoll an und wurde von einem unerträglichen Gestank getragen, der Olga jäh aus den Baumwipfeln in das weiche Moos zurückholte. Sie schlug die Augen auf, aber sie konnte sich nicht rühren. Wie ein Magnet zog das Moos ihren Körper in den Boden und hielt sie fest. So, als wollte es Olga vor dem Ungetüm schützen, das sich zu ihr hinunterbeugte und mit gefletschten Zähnen anknurrte. Es stank, und die Augen waren gelb. Geifer hing an seinem offenenMaul und lief in langen Fäden hinab auf ihre nackten Beine.
    Ihr blieb vor Schreck schier das Herz stehen. Sie wagte kaum zu atmen. Da gellte ein Pfiff von weit her durch die Luft, und das Ungeheuer ließ von ihr ab. Olga war nicht in der Lage, sich aufzurichten. Aber sie hörte deutlich, wie das große Tier davontrottete. Sie bewegte sich erst, als nichts mehr zu hören war außer dem vertrauten Vogelgezwitscher.
    Wie benommen ging sie zum Bach und wusch sich Arme und Beine gründlich ab. Oh, wie sehr sie es hasste, wenn diese Riesenköter nicht angeleint herumliefen und andere zu Tode erschreckten. Aber wem gehörte dieses Ungetüm? Von dem Besitzer hatte sie nichts als den Pfiff gehört. Hier im Wald war nur Robert als Hundenarr bekannt und gefürchtet. Aber vielleicht war es auch jemand aus der Stadt.
    Sie fühlte Unruhe in sich aufsteigen. Diese leise, altbekannte Unruhe, die hauchte: »Du findest keine Ruhe, nie bist du ganz zufrieden. Immer wirst du gestört. Dein Leben lang. Gestört, geärgert, verängstigt. Es gibt kein Paradies. Denn da sind Mücken und Rapskäfer. Fiese Nachbarn, Zahnschmerzen und Hunde. Und da sind böse Ahnungen, genährt aus verdrängten Erinnerungen, die ihre Fühler nach dir ausstrecken. Irgendetwas quält dich immer oder verdirbt dir den Tag.«
    Sie seufzte. Sich abzulenken, das gelang mit ihrer Arbeit fast immer. Da wurde sie wieder zum Kind, das auf dem Bauch lag, die Zunge zwischen die Zähne geklemmt, und mit heißem Eifer und roten Wangen zeichnete. Manchmal wunderte sie sich selbst darüber, dass diese Leidenschaft nie verblasste.
    Olga drehte sich einmal im Kreis und betrachtete denWaldboden, dann setzte sie

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