Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
Blick zu. »Du hast es also noch nicht gehört.«
»Was denn?« Thorvald war genervt. Er holte eine Plastikflasche aus seiner Tasche, schraubte den Verschluss auf und trank in großen Zügen, bis sich die Flasche knackend zusammenzog.
»Juliane ist tot. Olga hat sie im Wald gefunden.«
Thorvald hielt unvermutet inne, verschluckte sich und prustete das Wasser auf den Bahnsteig.
»Bist du verrückt? Oder hast du in der Geisterbahn hier einen Hitzschlag bekommen?«, fragte er ärgerlich und wischte sich das Kinn mit dem T-Shirt ab.
Ines antwortete nicht. Thorvald richtete sich auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
Olgas aufgeregte Stimme am Telefon fiel ihm plötzlich wieder ein.
Die nächste Bahn, vollgestopft mit müden und rotgesichtigen Menschen, fuhr quietschend in die Station ein. Wie Wasser an zwei Felsen, strömte die Masse an den beiden vorbei, die am Treppenabsatz standen und den Ausgang blockierten.
6
Olga drückte die Stirn an die kühle Scheibe der Hütte, so wie sie es als kleines Kind schon getan hatte, und sah hinaus auf den Hohlweg. Ihr kamen wieder die alten Geschichten in den Sinn, die ihr Vater früher gern erzählt hatte, aus der Zeit, als die Reisenden nur voller Angst und Misstrauen auf diesen »Teufelsgassen« unterwegs waren, denn sie galten als Wirkungsstätte böser Mächte. Und an den Wegkreuzungen wurden Galgen aufgerichtet, um die Schande der Gehängten in alle Himmelsrichtungen zu verbreiten.
Wie schwer es die Händler und Reisenden ein paar Hundert Jahre zuvor gehabt hatten, als sie mit ihren Ochsenkarren die steilen Hänge quer zum Flussverlauf passieren mussten, konnte Olga sich als Kind lebhaft vorstellen.
Die Geschichten spielten allesamt in ihrem Wald, auch dort, wo jetzt die Hütte stand. Und das fand Olga besonders aufregend. Das Gefühl, genau dort zu schlafen, wo die Skelette im Erdboden ruhten, die in einer ganz bestimmten Nacht, zu genau festgelegter Stunde ihr kühles Grab verließen, um sich an den Lebenden zu rächen. Olga hatte keine Angst vor ihnen. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass sie von den schauerlichen Besuchern verschont bleiben würde.
Oft, wenn ihr Vater schon eingeschlafen war, stand sie wieder auf und schaute aus dem Fenster. Dann löschte sie das Licht, das der Vater für sie angelassen hatte, damit
sie
von draußen nicht gesehen wurde. Dann brauchte sie nur lange genug hinauszusehen, und langsam begannen sich die Umrisse von Gestalten aus den Schatten der Büsche herauszulösen und als Schemen umherzuwandeln.
Sie hörte die schweren Wagen schon von weitem kommen. Es ging nämlich sehr laut zu, mit viel Geschrei und Geschimpfe. Wenn das Ochsengefährt auf der kurzen Geraden direkt vor ihrer Hütte angelangt war, hatte es den Steilhang hinter sich, bei dem Olga schon zu Fuß Probleme bekam. Denn, so hatte der Vater ihr erklärt, man kannte damals keine Serpentinen, man fuhr geradewegs den Steilhang hinauf, um, einmal oben angekommen, auf dem Plateau zu bleiben. Hier war es bequemer und vor allem sicherer, als in den tiefen, dunklen und feuchten Schluchten, in denen so mancher Unhold, sei es aus dem nächsten Dorf oder aus einem der inneren Höllenkreise, sein Unwesen trieb.
»Na los! Kommt schon ihr Mistviecher …! Das letzte Stück schafft ihr auch noch, hoooo, na, wird’s bald, elendes Ochsenvieh!«
Deutlich konnte sie den Fuhrmann fluchen hören. Und was der für Schimpfwörter kannte, grandios! Da konnte sie bei weitem nicht mithalten.
Einmal, so hatte der Vater ihr erzählt, sei in unmittelbarer Nähe der Hütte ein Trupp Reisender vorbeigezogen. Es war ein bunter Haufen, denn, so der Vater, aus Gründen der Sicherheit schlossen die Reisenden sich zu einer Karawane zusammen, um gegen Angriffe von Räubern und Wegelagerern gewappnet zu sein.
Ein Teil dieses Trupps bestand aus einfachen Fuhrleuten, die auf ihren zweirädrigen Karren Butter und Käse über Beyenburg nach Köln bringen wollten. Ihnen angeschlossen hatten sich ein Postreiter und eine Gruppe vornehmerHerren, die zu Pferd reisten. Sie trugen Felleisen und Lederflaschen bei sich sowie Dolche und Beile, um überhängende Äste abzuschlagen, die ihnen den Weg versperrten.
Doch gerade als sie an der Stelle des Weges waren, wo Hagen Ambach später dem Urwald einen Platz für die Hütte abtrotzte, brach der Tumult los. Eine Horde Raubritter sprang aus dem Unterholz hervor, fiel über die friedlichen Reisenden her und metzelte sie nieder. Aber auch einige der
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