Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
Da war niemand. Sie holte sich die Decke, die auf dem Sofa lag, nahm einen Stuhl vom Esstisch und setzte sich wieder ans Fenster, die Decke fest um die nackten Beine gewickelt.
Sie hatte ihrem Vater nichts von dem Besuch bei Vincent erzählt. Nicht, dass sie sich nicht getraut hätte. Anfangs hatte sie nicht daran gedacht. Später, als es ihr wieder eingefallen war, hatte sie keine Lust mehr dazu. Warum solltesie? Es würde nichts an der Tatsache ändern, dass die beiden einander aus dem Weg gingen. Und Roman wusste sowieso, dass sie ihren Großvater besuchte. Und was sollte sie ihm erzählen? Es gab keine Neuigkeiten; nichts, was Anlass gäbe, diese verfluchte Konstellation zu zerschlagen und sich wieder zu versöhnen. Nachdem Roman sie zur Hütte gebracht hatte, hatte Olga sich vor das Bücherregal gesetzt und ein wenig darin herumgestöbert. Sie war noch nicht richtig müde gewesen, aber doch schon so träge, dass sie nur oberflächlich in der kunterbunten Bibliothek herumblätterte. Hier war alles zu finden, alte Kinderbücher und alte Fotoalben.
Da entdeckte sie das alte, riesige Kassettenradio, das völlig verstaubt im untersten Regal stand. Sie nahm es heraus, suchte die Steckdose und drückte auf Start. Die Antenne war abgebrochen und es lag noch eine Kassette darin. Ob die noch lief? Der Kassettenrekorder ächzte und gab gequälte Laufgeräusche von sich. Plötzlich erfüllte das Kichern von hellen Kinderstimmen den Raum, dann ein lautes Rascheln des Mikrofons, um das sie sich jetzt hörbar zankten. Olga versetzte es einen Stich. Sie hörte ihre eigene Stimme, dazwischen Thorvalds und Bennos Piepsstimmen. Im Hintergrund war Lissys Geheule zu hören.
»Nein, das gibt‘s doch nicht«, flüsterte Olga. »Unsere selbst inszenierten Hörspiele.«
»Meine sehr verehrten Ladies und Damen!« Ein Rülpser von ungeheurer Länge durchbrach die feierliche Ansage, gefolgt von einem dreckigen Lachen. »Dies sind die Abenteuer der Schiffsbesatzung des Raumschiffes Enterscheiß!« Wieder das Lachen im Hintergrund, dann fiel das Mikrofon auf den Boden, Rascheln, Ächzen, Durcheinander. »Ach Mann …, Benno, hör auf! Du bringst alles durcheinander, Blödian!«
Olga lachte und schüttelte den Kopf. Sie stellte den Rekorder aus und stöberte weiter in dem Schuhkarton herum. Zwischen alten Fotos, die die Hütte und die Kinder zeigten, fand sie ein paar nicht beschriftete Kassetten, von denen sie eine herausfischte und in den Rekorder steckte. Das ›Allegro non troppo‹ des Violinkonzerts D-Dur von Brahms erklang. Es war die Aufnahme mit Yehudi Menuhin, zur Zeit seiner größten Reife und Intensität. Wie lange hatte sie das nicht mehr gehört. Sie schloss die Augen. Menuhins Violinenklänge schwebten auf Engelsflügeln hinaus in den Wald und wurden von dem Wind in den Himmel getragen.
Merkwürdig, dieser Wind. In der Wettervorhersage war davon nicht die Rede gewesen. Dabei waren die Meteorologen doch so zuverlässig geworden. Olga hockte noch immer am Fenster und blickte gedankenverloren hinaus. Die Verandalampe leuchtete mit ihrem gelben Lichtkreis auf die grüne Wand, die das Haus umgab. Der ganze Wald war in Bewegung. Der kleine beleuchtete Ausschnitt repräsentierte den Bergischen Wald in seiner ganzen Fülle und Schwere. Der Wind langte einfach in die Bäume und Büsche hinein und schüttelte sie, ohne sich zu genieren. Die Büsche wanden sich unter dem Griff und kicherten, als ob sie gekitzelt würden. Fast hatte es den Anschein, als würden sie mitsamt ihrem Wurzelwerk hin- und herhüpfen, um dem Wind auszuweichen.
Wo war Luis abgeblieben? Oder Benno? Jetzt war auch noch Thorvald weg. Olga kam sich verlassener vor denn je. Sie suchte nach ihrem Handy. Es lag in ihrer Tasche. Es musste aufgeladen werden. Sie brauchte das Ladekabel. Gleich morgen würde sie ihre Freunde aufspüren und dann Kommissar Kirschbaum besuchen. Irgendetwasmusste doch passieren. Hanna konnte doch nicht einfach so festgehalten werden. Was war hier los?
Olga stand auf und ging in kleinen Schritten mit der Decke um die Beine zum Herd und setzte Teewasser auf. So eine Nacht wollte sie nicht einfach schlafend vorüberziehen lassen. Der Wind würde vielleicht noch zunehmen und endlich die ersehnte Wetterwende herbeiführen.
Olga setzte sich wieder auf ihren Stuhl an das Fenster, stützte ihre Ellbogen auf das schmale Fensterbrett und schaute in den wogenden Wald hinaus. Der aufsteigende Dampf aus der Tasse ließ das Fenster leicht
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