Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
Leben.«
»Und das willst du abschütteln.«
»Ach, Papa. Mit dir hat das doch gar nichts zu tun. Aber ich muss endlich loslassen. Das betrifft übrigens auch Thorvald.«
Roman wollte gerade etwas sagen, doch Olga legte schnell den Zeigefinger auf die Lippen.
»Ich will nicht darüber reden. Aber ich bin in einer Sackgasse. Und ich weiß noch nicht, wie ich da rauskommen soll. Deshalb muss ich irgendwo anfangen. Bei der Hütte. Und als ob das nicht schon schwer genug wäre, finde ausgerechnet
ich
die tote Juliane!« Olga seufzte und hob die Schultern. »Ich habe keine Ahnung, wie das alles weitergehen soll.«
»Na, dann versuch das doch mit dem Verkauf. Wenn du ohnehin noch hierbleiben musst, dann nutz die Zeit.«
Olga nickte langsam. Sie war mit ihren Gedanken schon wieder bei dem Mord.
Roman lehnte sich zurück. »Übrigens habe ich Thorvald zum Essen eingeladen, wenn er diese Premiere hinter sich hat. Er will dich mitbringen.«
»Welche Premiere?«
»Hast du ihn nicht eben noch gesehen? Er ging, als du kamst. Ihr müsst euch doch in die Arme gelaufen sein.«
»Ich habe niemanden gesehen. Ich bin allerdings durch den Hintereingang gekommen. Also, welche Premiere?«
»Irgend so ein verrückter Regisseur – Reuther, glaube ich – hat ihn hier überfallen und mehr oder weniger genötigt, für einen indisponierten Tenor einzuspringen.«
»Was?«, rief Olga.
»Thorvald hat zugesagt. Er singt am Sonntag den Erik im ›Holländer‹.«
Olga schüttelte ungläubig den Kopf. »Dieser Regisseur muss ein Genie sein. Wie um alles in der Welt hat er das hingekriegt?«
Roman zuckte mit den Schultern. »Moralisches Unterdrucksetzen, Drohung, Erpressung … wie man das eben so macht. Sie sind alte Bekannte und haben schon mal zusammengearbeitet. Ziemlich erfolgreich sogar. Thorvalds Urlaub ist auf jeden Fall vorbei.«
»Ach«, erwiderte Olga beschwichtigend. »Damit kommt er schon klar. Vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Es bringt ihn auf andere Gedanken.«
Olga war bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Und gleichzeitig wusste sie genau, dass Roman ihre Enttäuschung bemerkte. Ihr Vater aber schwieg diplomatisch. Olga wusste nun, dass Thorvald in den nächsten Tagen keine Zeit mehr für sie haben würde. Und dass er – vielleicht schon direkt nach der Premiere – wieder abreisen würde. Nach Kopenhagen. Zu Nyoko.
Sie wurde schlagartig müde. »Begleitest du mich zur Hütte?«
»Gern!«
Schweigend liefen sie durch den Wald, hinauf zur Jagdhütte. Plötzlich blieb Roman stehen.
»Willst du nicht lieber bei mir übernachten? Ich will dir keine Angst machen, aber wer weiß, wer hier alles herumläuft?«
»Du machst mir keine Angst«, erwiderte Olga. »Wenn es wirklich jemand auf mich abgesehen hätte, könnte er jederzeit zuschlagen. Und warum sollte er? Da ist nichts, wofür es sich lohnen würde, mich umzubringen!« An der Hütte angekommen, gab sie ihm einen Kuss. »Danke, Papa.«
Roman blieb noch einige Zeit stehen. Er sah, wie nacheinanderalle Lichter in dem kleinen Häuschen angingen und die Vorhänge zugezogen wurden. Er hörte, wie Olga die Tür verriegelte. Sie hatte darauf verzichtet, die Fensterläden zu schließen. Er überlegte, ob er es noch tun sollte, ließ es dann aber sein und ging den Weg zurück zu seinem eigenen Haus. Ein merkwürdiges altbekanntes Gefühl beschlich ihn, ganz leise, unbestimmt, und es ließ sich den ganzen Abend nicht verscheuchen.
11
Die Nacht brachte einen so starken Westwind mit sich, dass Olga davon wach wurde. Sie schlich aus der kleinen Schlafkammer die knarrende Holztreppe hinunter. Sie hatte nur ein Hemd an und fröstelte plötzlich. Unten im Schrank lag der alte blaue Seemannspulli.
Endlich, dachte sie, als sie den Pullover übergestreift hatte. Endlich ist es vorbei. Endlich wieder frieren!
Vom Dach drangen unheimliche Geräusche herunter. Olga trat ans Fenster. Sie zog den Vorhang zur Seite und schaute hinaus in die Dunkelheit. Es war nichts zu sehen. Sie öffnete die Eingangstür und trat auf die Veranda hinaus. Der Wind drückte ihr so heftig ins Gesicht, dass sie einen Augenblick lang keine Luft bekam. Wo kam er plötzlich her? Eigentlich war der Wind warm, aber er fuhr neugierig um ihren Körper herum, so dass sie eine Gänsehaut bekam. Olga zog den Reißverschluss ihres Pullovers bis zum Kragen hinauf zu.
Sie knipste die Außenbeleuchtung an. Die Tür schlug mit einem lauten Knall zu, erschrocken fuhr Olga herum. Doch sie war allein.
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