Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
konnte ihn nicht einschätzen. Er machte seine Arbeit und sie war aus irgendeinem Grunde verunsichert, weil er sie nicht an seinen Erkenntnissen teilhaben ließ. Beobachtete er sie? War der nächtliche Beobachter an ihrem Fenster vielleicht einer von seinen Leuten? Vielleicht gehörte sie ja selbst zum Kreis der Verdächtigen. Oder Thorvald. Warum ließ Kirschbaum sie beide in Ruhe?
Mit zwei Kaffeebechern ging sie wieder hinaus. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
»Was machen wir hier eigentlich?«, rief sie laut und sah Ines an. »Wozu soll das gut sein? Wir sind schuld, dass Benno vielleicht nie mehr aufwacht.«
»Wieso denn?« Ines war aufgestanden und sah sie ruhig, mit einem kühlen, emotionslosen Blick an. »Hier ist etwas nicht in Ordnung, aber wir sind nicht schuld daran.«
»Wir können es aber nicht ändern«, rief Olga verzweifelt. »Oder besser …
ich
kann es nicht. Ich gebe zu, ich kriege einfach langsam Angst.«
»Angst kann beflügeln. Also, reiß dich zusammen«, sagte Ines trocken.
Olga wurde wütend. Es war dieselbe Wut, die sie als Kind überkam, wenn sie mit Ines zu tun hatte. Sie spürte wieder diese Macht, die von Ines ausging. Die Kälte, wenn sie Zuspruch erwartete. Überheblichkeit, wenn sie Freundschaft erhoffte.
»Sie haben übrigens auch die Freundin deines Vaters verhört. Du siehst, Kirschbaum hat eine neue Variante der Eifersucht ins Visier genommen.« Ines stand jetzt neben ihr. »Juli hat sich öfters mit deinem Vater getroffen.«
»Wer sagt das?«
»Kirschbaum und seine Leute machen ihre Arbeit gründlich. Sie ermitteln in alle Richtungen«, sagte Ines. »Das kannst du dir doch denken. Sie haben alle befragt, die hier wohnen. Und die Kontakt mit Juliane hatten. Und dazu gehörten neben Vincent Ambach auch Gudrun Himmelreich und dein Vater.«
»Sie war wegen ihrer Ambach-Story bei ihm«, schloss Olga.
»Und hat ihn dermaßen angebaggert, dass alle Vögel im Wald ein Lied davon sangen«, sagte Ines.
»Roman und Juliane?«, sagte Olga leise, ihr wurde heiß. Sie war einigermaßen verwirrt. »Woher bist du denn so gut informiert über Kirschbaums Ermittlungen?«
Ines schaute Olga nur an, ohne zu antworten.
»Okay«, fuhr Olga fort, »du gehörst zu den Menschen, die nicht lügen können, und schweigst … das heißt also, du kommst über jemanden bei der Polizei an interne Ermittlungsergebnisse heran? Daher auch das Wissen über Julis Todeszeitpunkt?« Plötzlich hellten sich Olgas Gesichtszüge auf. »Dieser Jemand war auf dem Klassentreffen«, sagte sie triumphierend. »Andreas … Hauptkommissar?« Olga schlug sich an die Stirn. »Warum bin ich nicht früher draufgekommen?«
Ines sah Olga an. Dann ging sie ein paar Schritte in den Garten. »Wenn du auch nur ein Sterbenswörtchen sagst, jemals, dann ist er seinen Job los. Und ich werde dir dein ganzes restliches Leben versauen. Du kannst mir glauben, ich kann das.«
Ines brauchte ihr nicht zu drohen. In Olgas Leben gab es sowieso nicht viel zu versauen.
»Er hat mir so einiges gesteckt«, sagte Ines. »Mindestens vier unserer braven Mitschüler sind vorbestraft.«
»Echt?« Olga schaute sie völlig verblüfft an.
»Ja, Kirschbaum und seine Leute haben sich durch deine Liste gearbeitet und so einiges zutage gefördert.«
Plötzlich horchte Ines auf. »Wo sind die Kinder?« Schnell stand sie auf und ging in die Hütte.
»Sie waren doch gerade eben noch hier.« Olga lief einmal um das Häuschen herum. Die Kinder waren nicht mehr da.
Laut nach den Kindern rufend liefen Olga und Ines im Wald umher, Olga schlug sofort den Weg in Richtung Steinbruch ein. Sie betete, dass ihre Panik unbegründet war. Trotzdem fing sie an zu rennen. In der Nähe des Steinbruchs verlangsamte sie ihre Schritte.
Bloß nicht rufen, dachte sie. Selbst Marfa, die Größere der beiden, könnte meinen, Olga wolle verstecken oder fangen spielen und in Richtung des Abgrunds laufen.
Olga begann, diese Gegend zu hassen. Wieso gab es so etwas überhaupt? Warum war dieser Teil des Waldes nicht längst abgesperrt worden? Sie bückte sich und kroch langsam auf die Kante zu. Alles war ruhig. Sie sah hinunter. Dort lagen keine zerschmetterten Kinderleichen herum. Tränen der Wut und der Hilflosigkeit schossen Olga in die Augen.
Sie sah noch einmal genauer in die Tiefe und musste sich die Tränen aus den Augen wischen, um besser sehen zu können, was sich dort abspielte. Zwischen Roberts Schrottwagen standen mindestens zehn
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