Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
lange Zeit gesammelt hatte. Vielleicht würde er sie, wenn er die Dummheiten und Schwachsinnigkeiten des alltäglichen Lebens eines Tages satthatte, allesamt in einem großen Glas Whiskey auflösen, sich vor das wärmende Kaminfeuer setzen und das kostbare Getränk genüsslich zu sich nehmen.
Er ging ins Wohnzimmer und setzte sich in den Ohrensessel vor dem Kamin. Eine Weile sah er ins Feuer. Dann nahm er das Programmheft des ›Fliegenden Holländers‹, das auf dem Beistelltisch lag. Er betrachtete den Umschlag und überlegte, wie oft er Wagners Oper bereits gesehen hatte. Zwanzig Mal?
Besessenheit, Enttäuschung, Geldgier und ewige Verdammnis waren das Öl im Getriebe des schlingernden Weltenrades. Senta und der Holländer. Ein ums andere Mal dachte er darüber nach, was diese Frau dazu trieb, ihr eigenes Leben hinzugeben, um das eines anderen zu retten, zu erlösen. Wie war das möglich? Konnte man einen Verfluchten durch reine, ehrliche Liebe erlösen?
Als Gudrun Himmelreich den Salon betrat, hatte Vincent Ambach seinen Platz am Kamin gerade verlassen. Er stand links neben der Terrassentür vor dem Bild in dem schlichten schwarzen Holzrahmen. Lange sah er sich die düstere und schwermütig wirkende Landschaft an, aber nicht so, wie ein Kunstinteressierter im Museum. Den Kopf mal nach rechts, dann nach links geneigt, einen Schritt vor, um ein Detail zu studieren, dann zwei zurück, um den Gesamteindruck zu vertiefen. Es sah beinahe so aus, als würden die beiden, der Künstler Jacob van Ruisdael und er, Vincent Ambach, einen letzten stummen Dialog führen. Über etwas, das ihn schon sehr lange beschäftigte. War doch Ruisdaels Landschaft der Spiegel seines eigenen Empfindens geworden. Sein Blick vertiefte sich in die Blätter der mächtigen knorrigen Eichen, jener uralten Baumriesen, die ein kleines Menschenleben mühelos überdauerten. Nur der Baumstumpf, der mahnend im Vordergrund hockte, machte deutlich, dass auch diese fest verwurzelten, alten Baumriesen eines Tages kippen konnten. So wie er selbst in sehr naher Zukunftnicht mehr sein würde. Der Künstler hatte ihm mit diesem Symbol seine eigene Vergänglichkeit vor Augen geführt.
Gudrun Himmelreich hatte sich auf den zweiten Stuhl am Kamin gesetzt und hielt das Programmheft in den Händen. Sie sah zu ihm herüber, als er das Bild von der Wand nahm. Er hielt es schräg und bewegte es leicht auf und ab, um mit Hilfe des Lichtes den glänzenden Firnis zu begutachten. Er war stark nachgedunkelt, und es fiel ihm schwer, die Details und Einzelheiten, die Ruisdael so virtuos ausgearbeitet hatte, überhaupt noch richtig zu erkennen. Er betrachtete eingehend die Rückseite, dann wieder das Bild.
Vincent Ambach drehte sich um, ging langsam zum Kamin zurück, das kostbare Gemälde in den Händen wie ein Tablett, auf dem bis zum Rand gefüllte Champagnergläser balanciert werden mussten. Vor dem Feuer blieb er stehen. Er bückte sich steif und legte das Bild ganz behutsam auf die lodernden Buchenholzscheite.
Olga saß in der Hütte. Sie hatte die Tür abgeschlossen. Das war eigentlich nicht nötig, denn keiner würde sie jetzt behelligen. Die Premiere des ›Fliegenden Holländers‹ stand kurz bevor.
Sie saß auf dem wackeligen Stuhl am Tisch und ihr war kalt. Es hatte sich eingeregnet und sie war auf dem Weg hinauf zur Hütte nass geworden. Die Verdunstungskälte ließ sie zittern wie Pappellaub in leichtem Wind. Es war ihr egal. Ihr Handy meldete sich. Sie reagierte nicht. Sie schaute noch nicht einmal auf das Display, um den Anrufer zu identifizieren. Sie stand auf und ging an der großen Gasflasche vorbei, die Thorvald aus der Stadt mitgebracht hatte und die er unter dem Waschbecken hatte anschließen wollen. Sie war überflüssig geworden.
Ihr Handy klingelte. Sie sah auf das Display. Die Nummer war unterdrückt..
»Hallo?… Olga?… Ich bin’s. Benno.«
Olga stiegen Tränen in die Augen. »Hallo, Benno.« Ihre Stimme zitterte. Sie wusste nicht genau, ob sie wegen ihrer beschissenen Situation heulte oder ob es die maßlose Freude und Erleichterung waren, dass Benno lebte.
»Was ist los mit dir?«, fragte Benno besorgt. »Du hörst dich so komisch an.«
»Ich freue mich einfach, deine Stimme zu hören.«
Olga begann heftig zu weinen, und als sie spürte, dass sie so schnell nicht mehr aufhören würde, schaltete sie ihr Telefon aus. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich leer geweint hatte. Allmählich löste kühle Nüchternheit ihre
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