Der Wald wirft schwarze Schatten
klein und fürchtet sich ganz schrecklich. Wolf glaubt, dass Papa für immer weg ist und nie mehr wiederkommt, und jetzt sind sie allein im Wald, und niemand wird sie finden, auch nicht Mama. Lukas liegt mit offenen Augen und stocksteif da und versucht sich zu erinnern, was in Papas Rucksack noch zu essen drin ist. Es muss noch lange reichen. Bestimmt tut es das, denn sie haben auf jeden Fall noch fast ein ganzes Brot, ein bisschen Marmelade und eine Packung Würstchen und ein paar Kartoffelpfannkuchen. Eine Orange und einen Apfel und vielleicht noch irgendetwas anderes in der Blechdose. Das ist ziemlich viel, denkt er, es wird schon gutgehen.
Während er nachdenkt, schaut er an die Decke. Da oben ist ein kleiner Spalt, durch den er einen Streifen vom Himmel sehen kann. Er ist unglaublich schön, dunkelblau. Von draußen hört er jetzt Vögel. Sie singen. Und dann hört er den Kuckuck. Es muss ja ein Kuckuck sein, denn er sagt Ku-kuck, genau wie in dem Lied. Er versucht sich den Kuckuck auf dem Baum vorzustellen, versucht, darauf zu kommen, was so Besonderes an einem Kuckuck ist. Und dann fällt ihm ein, dass sie allein sind. Er ist auch allein, denn Wolf ist nur ein dummer kleiner Kuschelhund, der nicht auf ihn aufpassen kann. Und er kann nicht auf Wolf aufpassen. Er kann ja nicht mal auf sich selbst achtgeben. Der Wald ist schließlich unendlich groß, er geht bis Schweden und Finnland und Russland. Und wenn Papa ihn nun nicht wiederfindet und ganz bis nach Russland geht, während er hier im Bett liegt und wartet und wartet? Jetzt spitzt er die Ohren besonders gut, lauscht auf den Kuckuck und versucht an nichts anderes zu denken. Er wartet auf das nächste Ku-kuck, und dann singt er
Der Kuckuck und der Esel,
und da breitet sich ein Schleier über seine Augen, und es fühlt sich an, als ob ein sanfter Wind über sein Gesicht streicht. Seine Augen fallen zu, und kurz darauf schläft er.
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31
Inmitten der Dunkelheit bleibt Robert stehen, stützt sich gegen einen Kiefernstamm und ringt nach Luft. Tropfnass von Schweiß. Er kneift die Augen zusammen, beugt sich vornüber und übergibt sich. Es dauert lange, bis er sich ausgekotzt hat, dann richtet er sich wieder auf und schwankt leicht, während sich sein Herz Schlag für Schlag beruhigt. Erst jetzt spürt er, dass sein rechter Knöchel weh tut. Er muss beim Laufen gestolpert sein, umgeknickt.
Erschöpft setzt er sich hin. Langsam gewinnt er die Fassung wieder. Die Angst ist erstaunlicherweise nicht mehr da. Er fühlt sich klar im Kopf. Überraschend klar. Alle Bilder sind zusammengefügt, die Teile passen. Was ihn vorher so unsagbar erschreckte, hat in einer Erinnerung Gestalt angenommen. Das Ursprüngliche. Die Ursprünglichen. Mutter und Vater. Sie – leichenblass auf dem Fußboden – in ihrem eigenen Blut badend. Er – groß und dunkelhaarig und bedrohlich. Und mit einem Blick, der sich nicht beschreiben lässt. In der Hand hielt er einen Gegenstand, die Waffe, die er gegen sie erhob.
Das
hatte er gesehen. Bevor er auf seinen kurzen Beinen ums nackte Überleben lief. Und der Wald wuchs hinter ihm zusammen, die Äste verknoteten sich, die Büsche schlossen sich zusammen und versiegelten das Schreckliche. Der Pfad war weg, und der Weg in die Erinnerung verschwand.
Das Laufen und Speien hat ihn geschwächt. Aber er ist klar im Kopf, als er das kleine Kind – sich selbst – vor Augen hat, wie es zwischen den Bäumen entlangwackelte. Halb bewusstlos vom Schock und dem Schrecklichen, für das es keine Worte gibt. Damit es nicht mehr möglich ist, dergleichen zu benennen, muss die Sprache verschwinden. Nur ein paar kleine, abscheuliche Fetzen sind übriggeblieben. Sie verwachsen und versinken im entlegenen Wald. Während er darum kämpft, sein Leben aufrechtzuerhalten. Ich bin weg gewesen.
Wie lange ist er hier durch die Gegend gelaufen? Wie lange hat er Durst und Hunger gehabt und phantasiert? Wann fing er an, Trolle und Hexen zu sehen? Sind ihm Tiere begegnet? Gab es hier damals auch einen Bären? Einen Fuchs, eine Eule, einen Star oder einen Elch, dort drüben, bei der Baumgruppe? Hat er versucht, mit ihnen zu sprechen? Zu sprechen, zu rufen? Während sein Mund viel zu trocken und seine Augen ganz geschwollen waren. Er muss sich leer geweint haben. Er muss hingefallen und die ganze Nacht liegengeblieben sein. Hin- und hergeglitten zwischen Wachen und verzweifeltem Schlaf, bis der Morgen graute. Mit dieser Ruhe, über die nur ein Kind
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