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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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verfügt, das weiß, dass es bald vorüber ist, muss er Nachtfalter und Schmetterlinge gesehen und ihnen zugeflüstert haben.
    Dann war das Wunder geschehen. Jemand hatte ihn gefunden und ihn hochgehoben. Jemand, der im Wald spazieren ging. Er wachte in einem Bett auf, in einem hellen Zimmer. An der Decke hing eine große und runde Lampe. Hier begann sein Leben. Hier wurde er geboren.
     
    In der Dunkelheit hört er Wasser plätschern. Er humpelt durchs Unterholz, bis er an einen Bach kommt, wäscht sich das Gesicht, spült sich den Mund aus und trinkt. Herrlich, dieses Wasser, was für ein Geschmack. Nie hat Wasser besser geschmeckt. Nie frischer. Er zieht den Schuh und den Strumpf aus und hält den schmerzenden Fuß hinein. Es ist eiskalt, aber er hält aus in dieser vollkommenen Erfahrung von Klarheit und Ruhe, die für ihn so ungewöhnlich ist. Er kann sich nicht entsinnen, sich jemals so gefühlt zu haben.
    «Anna», sagt er. «Es wird sich alles finden. Alles wird gut werden. Für dich, und mich, wir werden uns gut verstehen, viel besser, und Lukas …»
    Er ist ganz atemlos, obwohl er sich nicht bewegt hat. Lukas. O Gott! Zurück zur Hütte, er muss schnell dorthin zurückfinden, bevor der Kleine aufwacht und Angst bekommt. Er zieht den Strumpf und den Schuh wieder an, dreht sich, sieht sich in alle Richtungen um. Natürlich findet er sie wieder, er muss sie wiederfinden. Humpelnd rennt er durch den nachtschwarzen Wald.
    Weißt du, welche Geräusche am lautesten sind? Was am meisten Lärm verursacht? Das, was man fast nicht hört und trotzdem immer da ist. Nennt man es Bass, dieses Geräusch, wenn das Blut durch die Adern schießt, wenn sich die Lungen mit Luft füllen? Luft und Blut. Sie sprudeln, zischen, klopfen und brausen. Erst wenn diese Geräusche verstummt sind, weiß man, wie still es sein kann. Es ist so schrecklich still. Ich schmiege mich an den Wind. Lasse mich von ihm tragen, während er für mich atmet. Keucht, seufzt, heult und miaut. Er hält mich oben, trägt mich davon.
    Still! Wer ist da? Dort zwischen den Zweigen, im Dunkel unter den Bäumen, wo der Berg sich teilt? Komm her, hier entlang. Hierhin, hier, durch das Gebüsch. Ich kenne diesen Weg. Den Weg dorthin, wo uns niemand erreichen kann. Wo uns niemand finden konnte. Niemand sollte etwas finden.
    Ich kenne jeden einzelnen Stein.

[zur Inhaltsübersicht]
    32
    Wilhelm stolpert über eine Wurzel und fällt vornüber, schlägt auf den Boden. Er flucht und rappelt sich auf, keuchend und steif. Klammert sich an einen Baumstumpf, zieht sich daran hoch. Reißt einen Zweig vom nächsten Busch, wedelt damit um den Kopf herum, um die Mücken zu vertreiben, aber vor allem die Stimmen. Die Phantasie muss man mit dem Willen bezwingen. Aber die Furcht ist die Großmutter der Phantasie, und die Mühle im Kopf, von der er dachte, sie würde leiser werden, wenn er erst hier war, mahlt lauter denn je.
    Er richtet sich auf. Die Stirnlampe taucht alles vor ihm in eisiges Licht, es flutet über ein paar dünne weiße Baumstämme, dicht wie Flechtwerk und bleich vor dem stockdunklen Hintergrund. Er dreht sich um, der Lichtfluss folgt seinen Bewegungen als flackernde Reflexion. Alles andere ist im Dunkel verborgen, als existierte es nicht. Trotzdem hat er ein Gefühl, als sei jemand hinter ihm, der ihn verfolgt. Er arbeitet sich weiter durch das Dickicht, hält ab und zu inne, um sich umzudrehen, nachzusehen. Das bleiche Licht dreht sich mit. Er ist ein Leuchtturm, und er schwankt. Der Pfad ist weg. Er hält in alle Richtungen Ausschau, aber die alten Wegmarken sind nicht mehr da. Gerade er sollte doch wissen, dass Bäume und Büsche wachsen, Baumstümpfe verrotten, Steine unter Moos und Flechten verschwinden. Wilhelm macht das Licht aus. Die Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit.
    Er bewegt sich keuchend vorwärts. Versucht, nicht über die Baumwurzeln zu stolpern, die vor ihm liegen. Sie schimmern weiß im Mondlicht, das zaghaft durch die Wolken bricht, sehen aus wie Knochen. Ein runder Stein hat dieselbe Farbe. Dieselbe Form und Größe wie der Schädel eines Kindes. Das Kind, das immer tiefer in den Wald läuft und schließlich nicht mehr kann, sondern umfällt und vom Wald verschlungen wird. Er merkt, wie sein Puls rast, kneift die Augen zusammen, tastet nach den Zigaretten und zündet sich eine an. Macht ein paar tiefe Lungenzüge, ehe er weitergeht, Schritt für Schritt.
    Doch, er ist auf dem richtigen Weg. Er ist an dem Abhang angekommen,

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