Der Wald wirft schwarze Schatten
gerade wieder hineingehen, als sie sieht, dass die Flagge immer noch draußen hängt. Sie schlurft hinaus in die Dunkelheit, hinüber zur Hausecke, starrt zur Wandhalterung hinauf. Wie um alles in der Welt ist es ihr nur gelungen, sie aufzuhängen? Sie muss vorhin größer gewesen sein, sie schrumpft beständig. Sie ist den ganzen Tag über geschrumpft. Wenn sie nicht aufpasst, wird sie noch so klein wie Däumelinchen, und dann sieht sie irgendwann niemand mehr, dann ist sie einfach weg.
Sie wischt eine Träne ab. Aber sie weint nicht. O nein. Sie blickt wieder zur Flagge hinauf. Denkt daran, wie munter sie heute Morgen war. Wie aufgeregt und voller Erwartung. Sie hatte sie dort drinnen vor sich gesehen. Hatte sie am Esstisch sitzen sehen, zusammen mit ihr. Sie unterhielten sich, sprachen wirklich miteinander. Es war eine Wiedervereinigung, etwas ganz Besonderes. Und sie würde ihnen alles erzählen. Wie das Leben gewesen war. Wie sie die beiden vermisst hatte. Und dann würde sie ihnen das große Geheimnis verraten. Es würde wie Weihnachten sein, wie
Vermisst!,
diese Fernsehsendung, die sie immer zum Weinen bringt, ganz gleich, wie sehr sie sich dagegen wehrt. Jetzt werd bloß nicht albern. Schluss! Mach dich nicht lächerlich!
Auf einmal spürt sie etwas, das viel dringender ist, als die Flagge ins Haus zu holen. Sie muss aufs Klo, und zwar sofort. Eilig schlurft sie ins Bad, rafft mit einer Hand den Trachtenrock hoch, stützt sich mit der anderen auf den Klopapierhalter und plumpst auf die Brille. Sie seufzt erleichtert auf – doch zu früh. Der Urin plätschert ihr schon die Beine hinunter. Sie hat vergessen, den Schlüpfer runterzuziehen.
«Ach du Schande!», knurrt sie den großen gelben See zu ihren Füßen an. Sie erhebt sich vom Klo, zieht den bestickten Trachtenrock hoch, bekommt ihn endlich über den Kopf und wirft ihn über die Duschvorhangstange. Dann zieht sie den triefnassen Schlüpfer aus. Aber statt im Waschbecken zu landen, rutscht er ihr aus der Hand und klatscht auf den Fußboden. Sie starrt ihn an und kann es nicht glauben. Wie kann man nur so ungeschickt sein! Unmöglich, ihn aufzuheben. Ohne Greifstock ist das völlig aussichtslos, und den hat sie schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Jetzt muss sie alle Zimmer durchsuchen. Muss ihn finden, bevor das ganze Haus nach Pisse stinkt.
Sie wackelt in die Stube, lässt den Blick durchs Zimmer wandern, schaut sorgfältig in den Ecken nach. Geht zum Sofa, hebt die Kissen hoch. Sucht weiter, neben dem Buffet und dem Kamin. Kein Greifstock. Als sie am Esstisch vorbeikommt, fällt ihr Blick auf die Speisen, und sie merkt, wie hungrig sie ist. Sie setzt sich hin, nimmt sich eins der Schnittchen, eins mit Räucherlachs. Schmeckt immer noch gut. Sie isst auch noch eins mit Roastbeef, dann schaut sie aus dem Fenster, die Straße hinunter. Nein. Niemand. Sie hat sich am Telefon wohl verhört. Er hat sicher irgendetwas anderes gesagt. Sie hat sich geirrt, hat etwas missverstanden. Er wollte wohl
nicht
kommen, bestimmt war es das, was er gesagt hat.
Sie geht zurück ins Bad und steigt über den See, putzt sich die Zähne und betrachtet sich dabei im Spiegel. Wer hätte gedacht, dass sie mal so aussehen wird, so klein, weißhaarig und verschrumpelt? Früher, da war sie die Hübscheste, eine weißblonde arische Schönheit, genau wie auf der Titelseite von
Hirdjenta
. Davon ist jetzt nichts mehr übrig, nicht einmal ein Hauch. Aber so geht es ja allen. Allen, die leben. Während die, die in jungen Jahren sterben, so jung bleiben …
Sie zuckt zusammen, als sie das Schrillen der Türklingel hört, wirft sich den Morgenrock über, der an der Badezimmertür hängt, schlurft durch die Stube. Es klingelt wieder, es klopft. Polly zwitschert begeistert in ihrem Bauer.
«Aber selbstverständlich kommt er!», ruft sie. Ein wenig ärgerlich, dass er sie nun nicht im Trachtenkleid gesehen hat, aber das spielt keine Rolle, das ist es ja nicht, was
wirklich
zählt. Hauptsache, er kommt! Sie öffnet die Tür und erblickt – Aslaug, die sich dick und keuchend auf ihren Rollator stützt. Ihre kleinen Augen sind fast verschwunden in all dem roten Gesichtsfleisch. Evelyn schluckt und blinzelt die aufsteigenden Tränen weg.
«Um diese Uhrzeit besucht man ja wohl niemanden mehr», sagt sie.
Aber Aslaug hört nicht zu. Aslaug hört nie zu. Und sagt immer wieder dieselben Sachen. Sie ist schon zur Tür herein, sieht sich in dem dunklen Flur um.
«Was ist mit dem Licht?»,
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