Der Waldläufer
zurückgeblieben war – so rasch hatten die beiden Jäger ihre Tat ausgeführt. Als sie, sich mit den Händen am Gesträuch haltend, fast atemlos die steilen Seiten des Hügels erstiegen, erschreckte sie das unheimliche Schweigen, das auf dem Gipfel herrschte.
»Fabian! Fabian!« rief der Kanadier außer sich, während seine nervigen Beine vor Angst unter ihm zusammenzuknicken schienen. »Fabian, lebst du noch?« Niemand antwortete; der Sturmwind allein brauste wütender durch die klirrenden Zweige der Tannen auf der Plattform.
56 Die Stimme Rahels
In dem Augenblick, wo Fabian mit aufmerksamen Augen die geringste Bewegung seiner Gefährten überwachte, schlich sich der letzte von den Indianern, die durch das Los bestimmt waren, das Feuer der Belagerten auszuhalten, vorsichtig an der Einfassung des Val d'Or entlang. Es war Lufthauch. Sein Verhalten war ihm vom Mestizen bestimmt vorgeschrieben. Da das Mißtrauen der drei Jäger wach geworden sein mußte, so hatte der Indianer, um nicht die Kriegslist, die bisher so gut geglückt war, merken zu lassen, Befehl erhalten, anscheinend seine Vorsicht zu verdoppeln, um den Gipfel der Pyramide zu erreichen. Auf seinem Weg im Schutz des Gürtels von Weiden und Baumwollstauden sollte Lufthauch jedoch eine gewisse Grenze nicht überschreiten; er sollte an dem Ort stehenbleiben, wo die Büchse eines Jägers ihn nur noch treffen konnte, wenn der Schütze seine Arme oder seinen Kopf über die Zinnen hervorstreckte. Sang-Mêlé begann seine Toten mit einer gewissen Unruhe zu zählen; ohne Baraja und die drei Indianer zu rechnen, die Pepe und der Kanadier außer Gefecht gesetzt hatten, waren von elf Kriegern, die er hergeführt hatte, sechs gefallen. Lufthauch sollte der siebente sein, und der wilde Mestize wollte wenigstens, daß er der letzte und sein Tod ihm von Nutzen sei. Sang-Mêlé ahnte nicht im entferntesten, daß nur ein einziger von den Belagerten auf dem Gipfel des Hügels zurückgeblieben war; er wußte aber recht gut, daß keiner von den Jägern die Unvorsichtigkeit begangen hatte, seine Glieder dem Feuer des Feindes auszusetzen.
In der Tat ist die Vorsicht das einfachste Element der Kriegskunst in den Steppen. In diesen Kriegen an der Grenze muß man kriechen wie ein Tiger, sich winden wie eine Schlange, den Tod senden, ohne daß man auch nur das Gewehrfeuer sieht, das ihn aussprüht; man darf sich keine Blöße geben, so verführerisch auch die Gelegenheit zu einem guten Schuß sein mag.
Lufthauch staunte nicht wenig, daß er schon seit einigen Augenblicken frisch und gesund an dem Ort stand, wo die beiden Krieger, seine Vorgänger, den Tod gefunden hatten. Er blieb stehen, wie er den Befehl dazu erhalten hatte.
Obgleich es infolge der dichten Bewölkung des Himmels düster geworden war, so unterschieden die stets wachsamen Augen des Indianers doch vollständig selbst die geringsten Felsenspalten, und er konnte leicht sehen, daß diesmal nicht – wie die beiden vorhergehenden Male – der Lauf einer Büchse seinen leichtesten Bewegungen folgte. Der Grund davon war einfach der, daß Fabian, anderswo in Anspruch genommen, die Gegenwart von Lufthauch nicht ahnte, während dieser das Schweigen und diese Untätigkeit dem Feind gegenüber irgendeiner Kriegslist zuschrieb, die er nicht begriff. Er war darum auch nicht weniger darauf gefaßt, jeden Augenblick von einer unsichtbaren Waffe getroffen zu werden.
Für einen roten Krieger war dies ein langer und schrecklicher Augenblick, und er hatte Zeit, eine ganze Welt von Gedanken den beiden Wesen zuzusenden, die er ohne Hilfe in seiner Hütte zurücklassen sollte: sein junges Weib und das Kind, das erst so wenige Sonnen zählte. Während das Schweigen auf dem Gipfel der Pyramide herrschte, kämpfte der todesmutige Indianer, unbeweglich an die verhängnisvolle Grenze gefesselt, die er nicht überschreiten durfte, gegen die gebieterische Pflicht, die ihn an seinen Platz band, und gegen den ebenso gebieterischen Instinkt der eigenen Rettung, der ihm zurief, vorwärts zu gehen, da er ja der Gefahr getrotzt hatte, ohne daß die Gefahr anscheinend mit ihm zu tun haben wollte.
Gewiß, der Krieger der Steppe hatte genug für sein Gewissen getan; der Instinkt der Selbsterhaltung trug den Sieg davon, und er überschritt die durch die Befehle Sang-Mêlés gesetzte Grenze. Dasselbe Schweigen dauerte noch über seinem Haupt, und der Apache hatte schon den Fuß der Pyramide erreicht, ohne daß ihn irgend etwas beunruhigt hätte.
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