Der Wanderchirurg
wissen. Nach Nina und Conchita war sie mit ihren zwölf Jahren die Drittälteste, und damit war es eigentlich unter ihrer Würde, eine solche Frage vor den Kleineren zu stellen, aber ihre Neugier war zu groß.
»Weil wir alle Orantes heißen«, antwortete Conchita aus einer Ecke des Raums, wo sie zusammen mit Nina den Brotteig für den morgigen Tag knetete.
»Richtig«, sagte die Mutter, »denn Orantes fängt mit O an.« Sie schmunzelte, als sie sah, wie alle Kinder, selbst Nina, andächtig das O mit den Lippen formten.
»Das macht Ihr großartig, Seniora«, ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihr. Sie gehörte dem Magister. »Ich beobachte Euch schon eine ganze Weile, ich muss sagen, an Euch ist eine Lehrerin verloren gegangen.«
»Ihr übertreibt.« Ana wischte verlegen die Buchstaben von der Tafel.
»Nein, nein, das ist die Wahrheit«, versicherte der kleine Gelehrte, »glaubt mir, ich verstehe etwas davon!«
Er trat einen Schritt näher. »Was ich besonders bewundere, Seniora, ist, dass Ihr bei Euren vielen Aufgaben überhaupt noch Zeit findet, diesen Unterricht abzuhalten.«
Ana seufzte. »Manchmal frage ich mich auch, wie ich alles schaffe, die Arbeit wächst mir über den Kopf.« Das stimmte in der Tat. Während Orantes tagsüber mit den Zwillingen auf dem Feld war, hatte sie im Haus alle Hände voll zu tun. Sie erhob sich mit dem ersten Hahnenschrei und weckte zunächst die Kinder, denn jedes hatte im Tagesablauf seine feste Aufgabe. Anschließend bereitete sie das Morgenmahl, das die Familie traditionell gemeinsam einnahm. Dabei halfen ihr die beiden ältesten Mädchen Nina und Conchita. Wenn Orantes fort war, galt es, die Haustiere zu versorgen, wozu Schafe, Ziegen, und Hühner zählten. Das einzige Pferd, das sie besaßen, war bei Orantes draußen auf den Feldern und zog den Pflug. Nicht zu vergessen Isabella: Nach Emilios Tod gehörte auch das Maultier zum Hofbestand und verlangte ebenso wie alle anderen Futter und Pflege. War das Vieh versorgt, kümmerte Ana sich um die Hausarbeit. Gegen Mittag schickte sie eines der Kinder aufs Feld, damit Orantes und die Zwillinge ihr Essen bekamen. Meistens fiel diese Aufgabe dem neunjährigen Pedro zu. Besonders schwere Arbeitstage waren der Markttag in Porta Mariae, weil an diesem Tag Nina für die Hausarbeit ausfiel, ferner die Tage der Olivenernte im Herbst.
»Aber ich will nicht klagen«, sagte Ana laut, »solange alle gesund sind.« Ihr Blick fiel auf ihren Kleinsten: Gago war auch diesmal dem Unterricht nur lustlos gefolgt und hatte sich schon nach wenigen Minuten in eine Ecke gedrückt, wo er seitdem vor sich hin brütete. Der Junge machte ihr Sorgen. Gewiss, es war kein Wunder, dass er mit seiner Hasenscharte nicht so fröhlich war wie andere Jungen in seinem Alter, aber in letzter Zeit hatte er sich auffällig zurückgezogen. Sein Stottern war auch nicht besser geworden, im Gegenteil ... Wieder seufzte sie. Es war nicht leicht, seinen Kindern bei der vielen Arbeit auch noch das Schreiben und Lesen beizubringen, zumal sie nicht alle auf einmal unterrichten konnte. So hatte sie in den vergangenen drei Jahren zunächst den Zwillingen und den beiden ältesten Mädchen einige Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen vermittelt, und in diesem Jahr nun waren die jüngeren Kinder an der Reihe. Andere Bäuerinnen hatten sie zwar schon wegen ihres Unterrichts getadelt; sie war gefragt worden, ob sie sich für etwas Besseres hielte und dergleichen mehr, aber Ana war bei ihrem Entschluss geblieben, und Orantes, der selbst lesen und schreiben konnte, hatte sie in ihrer Meinung unterstützt. Sie hoffte, dass demnächst der Schulunterricht für Bauernkinder auf Campodios beginnen würde, dann konnte sie ihre Kleinen dorthin schicken, nicht alle auf einmal, selbstverständlich nicht, dafür wurde ihre Hilfe zu sehr im Haus gebraucht, aber vielleicht abwechselnd. Später dann würde man sehen, welches der Kinder sich als besonders begabt erwies, und man konnte es Mönch oder Nonne werden lassen.
»Wisst Ihr was, Seniora?«, platzte der Magister in ihre Gedanken hinein, »wenn Ihr gestattet, werde ich den Unterricht für eine Weile übernehmen! Ihr könnt Euch derweil um andere Dinge kümmern.«
Ana zögerte. Das Angebot war verlockend, aber konnte man es annehmen? Immerhin war der Besucher ein Magister, der an einer Hochschule in La Coruna gelehrt hatte. »Ach, ich weiß nicht ...«
»Lasst mich nur machen.« Der Magister blinzelte fröhlich die Kinder an.
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