Der Wanderchirurg
suchte. »Vitus«, begann er endlich, »du warst, wenn ich richtig gerechnet habe, über vier Monate im Kerker, hast du in dieser Zeit öfter an Campodios und deine Freunde dort gedacht?« »Ja, Ehrwürdiger Vater, das habe ich.«
»Und hast du dich auch daran erinnert, wie erbaulich die gemeinsamen Gebete, das Singen, die Andachten, die Lehrstunden, überhaupt das Einssein mit dem Allmächtigen für dich immer gewesen sind?«
»Wenn ich ehrlich bin, Ehrwürdiger Vater, habe ich daran nicht so häufig gedacht. Warum fragt Ihr?« »Nun, Vitus, ich stelle dir diese Fragen, weil ich möchte, dass du noch einmal in dein Herz hineinhorchst, ob du nicht doch ein Zisterzienser werden möchtest. Du hast das Zeug, einmal einer unserer Besten zu werden, denn der Herr in seiner Gnade hat dich reich mit Gaben ausgestattet. Ich habe Angst, dass viele deiner hervorragenden Begabungen hier draußen, in dieser feindlichen Welt, zum Absterben verurteilt sind.«
»Jetzt verstehe ich, was Ihr meint.« Vitus dachte über die Worte des Abtes nach. Natürlich hatte er sich oft nach Campodios zurückgesehnt, besonders in der ersten Zeit seiner Einkerkerung. Aber er hatte auch festgestellt, dass diese Gefühle im Laufe der Zeit schwächer geworden waren. Stattdessen hatte sich sein Wunsch verstärkt, in die Welt hinauszugehen. Umso mehr, als er in dem Magister einen Freund gefunden hatte, der Freud und Leid mit ihm teilte. »Ehrwürdiger Vater«, antwortete er, »ich habe in der Zwischenzeit eine wichtige Erfahrung gemacht, nämlich die, dass die Welt ungleich vielfältiger ist als das Leben auf Campodios. Das liegt sicher auch daran, dass hinter Klostermauern alles reglementiert ist. Die Mönche, die dort arbeiten und beten, wollen es so. Sie fühlen sich wohl, wenn ihre Tage immer gleich ablaufen, Monat für Monat, Jahr für Jahr, bis zu ihrem Tod. Ich hingegen brauche die Abwechslung: egal, ob es unterschiedliche Menschen sind, denen ich begegne, unterschiedliche Landschaften, durch die ich wandere, unterschiedliche Sprachen, die ich höre. Ich brauche die Abwechslung, und ich möchte all das kennen lernen.«
»Willst du nicht wenigstens deine Klosterausbildung so weit vervollkommnen, dass du in der Lage bist, die Gelübde abzulegen?«, wandte Gaudeck ein. »Dann könntest du immerhin wählen, ob du Priester werden willst oder nicht. Die Ausbildung wäre reine Formsache, denn das erforderliche Wissen hast du schon heute.« Seine Stimme war freundlich, aber eindringlich.
»Nein, Ehrwürdiger Vater, das möchte ich nicht. Die Ausbildung, die mir am meisten bedeutete, die habe ich abgeschlossen: Ich meine das Wissen um die Heilkunde, das ich bei Pater Thomas erworben habe.«
»Das kann ich bestätigen, Ehrwürdiger Vater.«
Überraschend trat Pater Thomas hinzu. Er hatte sich am Waldrand erleichtert und war auf dem Weg zurück zum Wagen.
»Verzeiht, dass ich Eure Unterhaltung unbeabsichtigt verfolgt habe und dass ich in diesem Fall, nun ja, nicht pro domo rede, aber das, was Vitus gesagt hat, ist richtig: Ich wüsste nicht, was ich ihm in punkto Kräuterheilkunde sowie in der Cirurgia noch beibringen könnte.«
»Schon gut.« Gaudeck konnte seinen Unmut nicht ganz verbergen.
Vitus freute sich über das Lob aus so berufenem Munde und sprach weiter: »Ehrwürdiger Vater, das Kapitel Campodios ist für mich, bitte nehmt es nicht persönlich, mit dem Tod von Abt Hardinus abgeschlossen. Ich will jetzt hinaus in die Weit, denn neben den genannten Gründen gibt es einen weiteren: die Suche nach meiner Familie.«
»Nun, ich weiß, und ich verstehe dich, mein Sohn, aber verstehe auch du mich: Ich musste versuchen, dich für uns zurück zu gewinnen.«
»Ja, Ehrwürdiger Vater.«
»Heureka!«, schrie plötzlich der Magister vom Wagen her. Die drei sahen sich erstaunt an. »Was ist geschafft?«, rief Vitus zurück. Zusammen mit Gaudeck und Thomas eilte er zum Heuwagen vor der Scheune.
»Der Datumstein!« Wie eine Trophäe hielt der kleine Mann den Ziegel hoch. »Bitte sehr, hier steht's für jedermann sichtbar: das Ausbruchsdatum!«
ex: 4. August A. D. 1576
»Für jedermann sichtbar, nur leider nicht für künftige Kerkerinsassen«, entgegnete Vitus. Er hatte es eigentlich nicht sagen wollen, aber er wusste, dass der Magister früher oder später selbst darauf gekommen wäre.
»Das stimmt.« Der kleine Gelehrte hielt noch immer den Stein in die Höhe. Er überlegte. Dann blinzelte er und begann zu lächeln. »Aber es stimmt auch, dass
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