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Der Wanderchirurg

Der Wanderchirurg

Titel: Der Wanderchirurg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serno Wolf
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freier Mann, die letzte Äußerlichkeit, die an den Kerker erinnerte, ist mit der Kette verschwunden. Und deine Haare wachsen auch schon wieder kräftig nach. Weißt du was? Ich nehme dir den schwarzen Bart ab, der verträgt sich sowieso nicht mit deinen blonden Locken. Und die Inquisition ist ohnehin über alle Berge.«
    Vitus lachte. »Gut, einverstanden.« Er und der Magister hatten sich in den letzten Tagen zunehmend sicherer gefühlt. Es schien wirklich so, als würde sich niemand mehr für sie interessieren.
    Mit einer schwungvollen Bewegung riss Orantes den Vollbart ab. Kinn und Wangen, die Vitus jeden Morgen rasieren musste, bevor er die Tarnung anlegte, wurden wieder sichtbar.
    »Ja, das ist mein alter Vitus!«, rief der Landmann fröhlich. Er blickte sich um. »Und jetzt hätte ich Appetit auf ein Mittagsmahl! Seht mal, da kommt es schon herbeispaziert.« Gago kam langsam, den großen Topf vor sich hertragend, näher. Es sah aus, als hätte das Kochgeschirr Beine.
    »Was bringst du uns denn Schönes, Gago?«, rief Orantes ihm erwartungsfroh entgegen.
    »G-g-g-gem-m-m-m-mhüse-e-e-c-suph-suph-sup-p-ppe!« Es dauerte mehr als eine halbe Minute, bis der Kleine das Wort heraushatte.
    »Aah, Gemüsesuppe!«, freute sich Orantes. »Was ist denn alles drin?«
    Gago sagte nichts. Nur sein kleiner Kopf lief rot an, und seine Oberlippe mit der hässlichen Hasenscharte zitterte.
    »Ist Kohl drin?«, half Orantes nach. Gago nickte.
    »Wurzeln vielleicht auch?« Abermals nickte der Kleine. »Und Lauch?« Gago schüttelte den Kopf.
    »Na, dann wissen wir ja so ungefähr Bescheid«, fasste Orantes zusammen. »Komm, setz dich zu uns, mein Sohn, lass es dir schmecken.«
    Gehorsam nickte der kleine Stotterer und setzte sich zwischen seinen Papa und Vitus. Die Zwillinge nahmen gegenüber Platz. Jeder nahm seinen Holzlöffel heraus und begann zu essen.
    Nachdem sie ihr Mahl beendet hatten, lehnte Vitus sich bequem zurück und strich dem Jungen über den Kopf.
    »Was hast du denn heute Morgen erlebt, Gago?«
    Gago schnüffelte und blickte statt einer Antwort zu Boden. »Gibt es denn gar nichts zu erzählen?«, fragte Vitus aufmunternd. »Du hast doch deiner Mutter sicher bei irgendetwas geholfen. Was war es denn?«
    Gago begann zu weinen. Erst leise nur, dann immer stärker. Schließlich wurde sein ganzer Körper von Schluchzern geschüttelt. Hilflos strichen Orantes und Vitus ihm wieder und wieder über den Kopf, aber der Kleine ließ sich nicht beruhigen. Endlich sagte Vitus: »Pass auf, Gago, ich habe eine Idee. Ich zeige dir jetzt, wie man eine Angelrute schneidet, und dann fischen wir zusammen. Wenn du was fängst, darfst du es behalten. Vielleicht macht deine Mutter dir sogar eine Abendmahlzeit daraus.« Vitus' Blick ging fragend zu Orantes, dessen Nicken zeigte, dass er einverstanden war:
    »Geht aber vorher am Hof vorbei und sagt der Mutter, wo ihr seid, sonst sorgt sie sich.«
    »Machen wir«, versprach Vitus. Und zu Gago gewandt:
    »Du kommst doch mit?« Der Kleine nickte stumm.
    »Abgemacht, wer den größten Fisch fängt, hat gewonnen.« Später, am Ufer des Pajo, schnitzte Vitus aus Weidenästen zwei Angelruten.
    »Du darfst niemals zu festes Holz nehmen, es muss biegsam sein, damit es nachgeben kann, wenn der Fisch daran zieht. Sieh mal.« Vitus bog eine Rute durch. »Mit Eiche oder Buche ginge das nicht.« Gago machte große Augen und nickte eifrig. »Am dünneren Ende der Rute machen wir einen Einschnitt, da kommt der Angelfaden dran, den befestigen wir mit einem Kreuzknoten. Kannst du einen Kreuzknoten machen?«
    »N-nö.«
    Vitus zeigte es. Dann löste er den Knoten wieder. »Jetzt du!« Mit geschickten Fingern knüpfte Gago den Knoten.
    »Donnerwetter, das ging aber fix! Hast du das wirklich zum ersten Mal gemacht?«
    »Hm.«
    »Gut, jetzt noch die Würmer ans Fadenende, dann können wir um die Wette fischen. Petri Heil, Gago!«
    »Hm-m.«
    Nachdem sie einige Zeit ins Wasser gestarrt hatten, zuckte es plötzlich an Gagos Angel. Die Rute spannte sich und drohte, dem Kleinen aus der Hand zu rutschen.
    »Festhalten!« Vitus wollte Gago zu Hilfe kommen, doch der Kleine drehte ihm den Rücken zu und umklammerte die Rute mit aller Kraft. Er wollte den Fisch allein fangen. In seinem kleinen, fratzenhaften Gesicht bildeten sich vor Anstrengung unzählige Fältchen.
    Endlich erlahmte die Gegenwehr des Fisches, Gago hatte gewonnen. Ein Prachtexemplar wurde sichtbar, etwa eine halbe Elle lang, silbrig glänzend und

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