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Der Wanderchirurg

Der Wanderchirurg

Titel: Der Wanderchirurg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serno Wolf
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diesem Zeitpunkt schien die Sonne noch schräg herab - und nicht aus dem Zenit, von wo Gagos Nase einen Schatten auf die Operationsstelle geworfen hätte. So weit war alles in Ordnung. Er rückte seinen Stuhl ein wenig zur Seite, damit auch sein eigener Kopf keinen Schatten bildete.
    »Kannst du schon bis zehn zählen?«, fragte er. Der Kleine schüttelte den Kopf.
    »Dann pass auf, ich mache es dir vor.« Vitus begann langsam zu zählen: »Eins ... zwei ...«, er nahm den Schlafschwamm, tauchte ihn in die Narkoseflüssigkeit und drückte ihn aus, »... drei ...«, er presste den Schwamm behutsam in Gagos Nasenlöcher, »... vier ... fünf ...«, Gago schnaufte ängstlich, wobei er die Dämpfe tief einatmete,
    »... sechs ... sieben ...«, er guckte schläfrig, »... acht ...«, die Augen fielen ihm zu, »... neun ... zehn ...«
    Gago war fest eingeschlafen. Sein Körper sank nach hinten. Orantes griff mit der Rechten unter sein Kinn, um den Kopf zu stabilisieren, während seine Linke den Bauch umfasste. »Kannst du den Kleinen so länger halten?«, fragte Vitus, während er den Schwamm fortlegte.
    »Kein Problem.« Orantes wirkte gefasst. Vitus' Ruhe hatte sich auf ihn übertragen. »Was ist das für eine Narkoseflüssigkeit, in die du den Schwamm getaucht hast?« »Es ist ein Narcoticum, dessen Rezeptur auf die Benediktinermönche vom Kloster Montecassino in Italien zurückgeht. Es ist sehr bewährt. Allerdings habe ich statt der Mohnsamen ersatzweise den Milchsaft des Schlafmohns genommen, aber wie du siehst, geht es auch so.« Orantes nickte. »Dann los, in Gottes Namen.« Vitus betrachtete noch einmal sorgfältig die Operationsstelle. Gagos Hasenscharte sah wie ein umgekehrtes V aus: Die Spaltung der Oberlippe setzte direkt unterhalb der Nase an, die beiden Schenkel des Vs waren fest mit dem darunter liegenden Zahnfleisch verwachsen. Gottlob war nur die Oberlippe gespalten und nicht der Kiefer darunter oder gar der Gaumen - beides wäre inoperabel gewesen. So aber beurteilte Vitus die Chancen für ein glückliches Gelingen als ausreichend.
    »Schläft der Kleine fest?«, fragte er zur Sicherheit noch einmal. Orantes schüttelte Gago ein paar Mal. Der Junge reagierte nicht. »Wie ein Murmeltier.«
    »Wunderbar. Fangen wir an. Magister, gib mir bitte das Skalpell mit der geballten Spitze.«
    » Hier.«
    »Danke.« Vitus setzte die rasiermesserscharfe Klinge zwischen Zahnfleisch und Oberlippe an und trennte die beiden Schenkel des Vs nach oben auf. Es war eine Sache von wenigen Minuten. Die schwache Blutung unterhalb der beiden Hautlappcn stillte er mit Alaunstein.
    »Das war der erste Schritt. Zum Glück handelt es sich bei Gago nur um ein Labium fissum, um eine ganz normale Hasenscharte also.«
    »Was jetzt?«, fragte der Magister.
    »Jetzt gibst du mir von den beiden geraden Scheren die kleinere.«
    »Was hast du damit vor?«
    »Ich schneide von den Rändern der Hautlappen ein Stückchen ab, damit sie später zusammenwachsen können.«
    »Verstehe«, sagte der Magister, »bei Haut auf Haut würde das nicht funktionieren.«
    Nachdem Vitus den zweiten Schritt vollzogen hatte, stoppte er die Blutung abermals mit Alaunstein.
    »Jetzt, Magister, gib mir eine goldene Nadel. Hast du den Faden durch die Öse gezogen und mit einem Knoten gesichert?«
    »Hab ich.« Der kleine Gelehrte reichte das Gewünschte. Vitus nahm die Nadel und betrachtete sie. Für das, was er vorhatte, wurden vielfach auch Silbernadeln eingesetzt, doch er war der Meinung, dass Gold als edelstes Metall weniger Infektionen hervorrief. Dann drückte er die beiden begradigten Ränder mit der linken Hand fest zusammen, setzte mit der rechten unterhalb der Nase die Nadel waagerecht an und schob sie mit einer einzigen gleitenden Bewegung quer nach links durch die beiden Oberlippenlappen hindurch - so weit, dass beide Nadelenden gleich lang aus der Haut herausragten. Als Nächstes nahm er den herabhängenden Faden, zog ihn in Form einer liegenden 8 stramm unter den Nadelenden hindurch und sorgte so dafür, dass die Wundränder sich nahtlos zusammenfügten.
    Dasselbe machte er anschließend mit der zweiten Nadel ein Stück weiter unten. Als auch dies getan war, hatte sich das umgekehrte V auf ganzer Höhe geschlossen.
    »Jetzt gib mir die Honigsalbe, Magister ... danke.«
    Vitus bestrich die Wunde. »Und jetzt das Emplastrum longum.« Der Magister reichte die lange Pflasterauflage, die von einer Wange zur anderen reichte. Vitus legte sie so stramm an, dass

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