Der Wanderchirurg
stellte er zufrieden fest, hatte Tirzah schon sämtliche wohlfeilen Tiegel und Fläschchen am Podestrand aufgebaut. Mit schnellem Blick überprüfte er das Sortiment auf Vollständigkeit und rückte noch einmal seinen Behandlungsstuhl zurecht.
»Wohlan denn«, sagte er zu sich, holte tief Luft und rief mit voll tönender Stimme in die Menge:
»Hochverehrtes Publikum!«
Senoras und Senores! In mir erblicken eure Augen den approbierten und examinierten Doctorus medicinae Bombastus Sanussus, sess-und wohnhaft zu Toledo ...»
Vitus klappte das Buch zu und schloss es ab. Bei diesem Lärm war an eine beschauliche Lektüre nicht zu denken. Er stand auf und schlenderte zum Wagen von Zerrutti und Maja.
»Guten Morgen«, sagte er eintretend, »steckt vielleicht der Magister hier irgendwo?«
»Guten Morgen, du gut geschlafen, si?« Zerrutti stand mitten in dem sorgfältig aufgeräumten Raum und zog seiner Partnerin mit taschenspielerischer Geschicklichkeit schwarze Tücher aus den Ohren. »Ich machen Übungsstunde, si?«
»Da bin ich schon!« Der Magister trat hinter einer Holzwand hervor, die eine ähnliche Funktion erfüllte wie die Wolldecke in Vitus' und Tirzahs Wagen. »Was machen wir mit dem angebrochenen Vormittag?«
»Ich wollte mal nach Arturo sehen und ihn fragen, ob wir nicht irgendetwas Sinnvolles tun können. Die Zwillinge machen sich ja bereits nützlich.« Vitus schenkte Zerrutti und Maja einen anerkennenden Blick.
»Übrigens, was ihr gestern Abend mit Antonio und Lupo vorgeführt habt, war eine kleine Sensation. Kompliment!«
»Wieso Antonio und Lupo?« Zerrutti kicherte. »Für Publikum es waren nur eine einzige Junge, si? Und Arturo sein nicht hier. Er geritten nach Rondena, wollen Sack Mehl für Brotbacken und allerlei kaufen, si?«
»Tja, denn«, meinte der Magister, »müssen wir wohl unserem gelehrten Doctorus wieder zuschauen.« Doch als sie aus dem Wagen gestiegen waren, stellten sie fest, dass Bombastus Sanussus gerade eine Pause einlegte. Er saß mit Tirzah am Rande des Podests und schwenkte eine gefüllte matula in der Hand. Irgendjemand schien ihm seinen Urin zur Diagnose überlassen zu haben. Vielleicht war es auch sein eigener. Mit dozierender Stimme sprach er auf seine Assistentin ein: »... und deshalb, Jungfer Tirzah, ist der Harn des Menschen etwas ganz Besonderes. Er ist gewissermaßen das Konglomerat aller Körperflüssigkeiten, weshalb er in meiner Säftelehre die sechste und abschließende Stelle einnimmt.«
»Und die fünfte?«, fragte der Magister wenig respektvoll. Überrascht schaute Sanussus auf. Seine Augenbrauen hoben sich, was ihn noch blasierter aussehen ließ. »Die fünfte Stelle nimmt bei mir der Schweiß ein, junger Freund.«
»Aha.« Der Doctorus wandte sich an Vitus: »Wenn Euch die Vier-Säfte-Lehre geläufig ist, mein Freund«, er unterbrach sich, »sie ist es doch, oder?«
»Gewiss.« Vitus entschloss sich, dem Mann, der sich Bombastus Sanussus nannte, eine kleine Lehrstunde zu erteilen: »Ich will sie Euch gern erklären: Die Vier-Säfte-Lehre wurde von den antiken griechischen Ärzten entwickelt, und zwar in Anlehnung an die Lehre von den vier Elementen Feuer, Luft, Wasser und Erde. Galenos ist einer ihrer größten Vertreter, dank seiner Forschungen wurde deutlich, dass alle Vorgänge, im tierischen wie im menschlichen Körper, entscheidend auf den vier Säften und ihren Qualitäten beruhen: Die gelbe Galle, chole, steht für die warm/trockene Dimension; das Blut, sanjjuis, für die warm/feuchte; der Schleim, phlegma, für die kalt/feuchte und schließlich die schwarze Galle, melancholia, für die kalt/trockene. Besteht nun eine gleichmäßige Mischung von alledem im Körper, Eukrasia genannt, so ist der Mensch gesund, vorausgesetzt, die Säfte wirken harmonisch zusammen. Krank dagegen wird er, wenn einzelne Säfte die Oberhand gewinnen oder wenn sie zu wenig vorhanden sind. Gleiches gilt, wenn sie sich an einer Körperstelle ansammeln oder sich aus ihr entleeren. Diesen Zustand bezeichnet man als Diskrasia. Um die inneren Vorgänge bei den Krankheiten erklären zu können, suchten und fanden die alten Ärzte für alle Leiden bestimmte Qualitäten als innere Ursachen, beispielsweise die gelbe Galle für Gelbsucht und Wundrose, das Blut für Schwindel, den Schleim für Rheuma, Asthma, Steinleiden und Schlaganfall, die schwarze Galle für Aussatz und Krebs.« Vitus machte eine Pause, bemerkte, dass der Doctorus noch immer blasiert dasaß und dachte: Na
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