Der Wanderchirurg
aufkommende Verzweiflung. Immerhin: Seit Beginn der Infusionen war eine lange Zeit vergangen, und Antonio hatte keine Abwehrreaktion gezeigt.
Er legte eine Kompresse auf die Einstichstelle und fühlte automatisch nach dem Puls. Der Herzschlag war stärker geworden. Ungläubig fühlte er abermals.
Nein, er hatte sich nicht geirrt. Der Puls war kräftiger!
Das bedeutete: Mehr vitales Pneuma durchströmte Antonios Körper, und wenn das stimmte, musste auch der Atem kräftiger geworden sein. Er beugte sich hinunter, befeuchtete einen Finger und hielt ihn vor die Nasenlöcher des Verletzten. Ein schwacher, aber deutlicher Zug war zu spüren. Ein Triumphgefühl durchschoss ihn, aber er zwang sich, seine Freude nicht laut hinauszuschreien. Wenn nicht alles täuschte, würde Antonio bald aufwachen.
»Tirzah«, sagte er scheinbar gelassen, »erzähl mir von deinem Lebenstrank. Wie stellt man ihn her?«
»Meinen Lebenstrank?« Sie wunderte sich, dass er jetzt an so etwas denken konnte. »Nun, der Hauptbestandteil ist die Mistel, aber es muss eine sein, die auf einer Eiche gewachsen ist. Und sie darf nur zu mitternächtlicher Stunde gepflückt worden sein.«
»Warum ist der Zeitpunkt so wichtig?«
»Wegen der kosmischen Kräfte, die sich nur bei Mondlicht entfalten.«
»Und wie geht es weiter?« Vitus beobachtete Antonio.
»Sofort nach dem Pflücken werden die Mistelblätter kleingezupft und in eine dunkle Flasche gefüllt. Anschließend werden dreizehn grüne Eicheln dazugegeben.«
»Und dann?«
»Dann wird die Flasche mit trockenem Wein aufgefüllt, mit einem Korken verschlossen und anschließend mit Krötenpech versiegelt.«
Vitus glaubte, ein winziges Wimpernzucken bei Antonio festgestellt zu haben.
»Dein Lebenstrank ist recht aufwendig in der Herstellung.«
»Oh, mit dem, was ich eben aufzählte, ist es noch lange nicht getan.« In ihrer Stimme lag Scheu. Sie hatte Vitus zwar versprochen, ihm die Zusammensetzung der geheimen Rezepte zu verraten, aber ihr war unbehaglich zumute angesichts der vielen Zuhörer. Sie war nicht sicher, ob sie das Einverständnis ihrer Großmutter, der Phuri Dai der Familie, gehabt hätte. Andererseits vertraten manche weisen Heilerinnen die Ansicht, dass die Medizin der Zigeuner von O'del, dem Guten, für alle Menschen vorgesehen sei, und nach einigem Zögern entschied sie sich weiter zu sprechen.
»Die Flasche muss für die Dauer von zwölf Wochen vergraben werden, und zwar so, dass ihr Hals genau in Richtung Sonnenaufgang zeigt.«
Vitus war jetzt sicher, dass Antonio gleich aufwachen würde.
»Was bewirkt der Trank genau?«, wollte er wissen. Er glaubte zwar nicht an die besonderen Rituale, die zur Herstellung des Elixiers notwendig sein sollten, aber er wusste um die Heilkräfte der Mistel.
»Der Lebenstrank aktiviert alle Abwehrkräfte des Körpers - auch die gegen den Tod! Die Mistel mit ihrer geheimnisvollen Kraft bringt alle Säfte des Körpers ins richtige Gleichgewicht und stärkt das Herz. Sie ist die wichtigste Heilpflanze überhaupt, was man schon an den vielen Namen sieht, die man ihr gegeben hat: Hexenkraut, Donnerbesen und Kreuzholz sind nur einige davon.«
Antonios Lider hatten sich einen winzigen Spalt geöffnet, was jedoch nur Vitus aufgefallen war, da die anderen sich auf Tirzah konzentrierten.
»Antonio!«, rief Vitus. »Hörst du mich?«
Der Zwilling schlug vollends die Augen auf.
»Was ist ... passiert?«, fragte er mit schwacher Stimme.
»Hurraaa!« Der Magister war der Erste, der begriffen hatte, was vor sich gegangen war. »Er lebt!«
»Antonio!«, rief Lupo.
»Er ist durchgekommen, si?« Aus Zerrutis Stimme klang unsägliche Erleichterung. Plötzlich redeten alle durcheinander.
Tirzah nahm einen Löffel und flößte Antonio von ihrem Lebenstrank ein. Das Elixier machte seinem Namen alle Ehre, denn der Kranke schien sich jetzt rasch zu erholen. Sein Gesicht gewann zusehends an Farbe, er versuchte sich aufzurichten.
Tirzah drückte ihn sanft wieder zurück. »Nicht so schnell, Zwilling«, sagte sie. Ihr Ton klang mütterlich, obwohl sie selbst höchstens zwei Jahre älter war. »Nur nichts überstürzen, du springst noch früh genug wieder herum.« Abermals gab sie ihm von ihrem Lebenstrank.
»Das schmeckt scheußlich!« Antonio schüttelte sich.
»Aber es hilft.«
Antonio ließ seinen Blick in die Runde schweifen. Plötzlich entdeckte er die blassen Züge von Lupo.
»Fehlt dir was, Bruder?« fragte er teilnahmsvoll. Lupo schluckte, um
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