Der Wanderchirurg
Gliederreißen. Doch am zweiten Morgen stürzte eine Mutter heran, die ein keuchendes, nach Luft ringendes Kind im Arm hielt. Man sah, dass es in wenigen Minuten ersticken würde, denn die Bewegungen seiner Armchen wurden zusehends matter.
»Um der barmherzigen Mutter Gottes willen, tut etwas, Cirurgicus, tut etwas! Ich weiß nicht mehr ein noch aus!«
Die verzweifelte Frau hielt Vitus das Kind entgegen. Tirzah eilte hinzu, betrachtete den Kopf des Kleinen und wechselte dann einen schnellen Blick mit Vitus.
»Ich denke, ich weiß, was es hat: Wir Zigeuner nennen diesen Zustand Bräune, es ist eine tückische Fieberkrankheit, bei der die Atemwege sich so sehr schließen, dass der Kranke keine Luft mehr holen kann und jämmerlich erstickt.« Vitus nickte. Die Diagnose deckte sich mit seiner. »Wie lange ist das Kind schon krank?«, fragte er die Mutter. »Mein Paco? Wartet ...«, der Frau fiel es schwer, sich zu konzentrieren. »Seit zehn Tagen ungefähr.«
»So lange schon?« Der Frau jetzt Vorhaltungen zu machen, dass sie nicht früher ärztlichen Rat eingeholt hatte, war nutzlos. Vitus öffnete dem Jungen den Mund, und ein süßlichfauler Geruch schlug ihm entgegen. Im Rachen entdeckte er einen bräunlichen Belag. Die Öffnung unterhalb des Zäpfchens war völlig zugeschwollen.
»Wenn der Kleine nicht innerhalb der nächsten Minute zu Atem kommt, stirbt er. Ich werde ihm deshalb die Luftröhre aufschneiden.« Die Mutter schrie entsetzt.
»Beruhigt Euch, Senora, und überlasst das Ganze mir.«
Vitus versuchte, Gelassenheit zu verbreiten, obwohl er selbst alle Kräfte brauchte, um nicht in Hektik zu verfallen.
»Tirzah, halte den Jungen ruhig und drück ihm den Kopf in den Nacken, ich werde zwei Fingerbreit unterhalb des Kehlkopfs einschneiden.«
Tirzah gehorchte, Vitus setzte das Messer an. Er drückte die Spitze in die Haut, und ein paar Blutstropfen quollen hervor. Es war eine neue Erfahrung für ihn, ein Kind auf Leben und Tod zu operieren: Es war anders und schwerer, und es kostete ihn Überwindung, das Skalpell zu führen. Er schnitt tiefer ein. Zu seiner Erleichterung blutete die Wunde kaum. Endlich hörte er ein Rasseln und Blubbern aus der Tiefe des Halses.
Er hatte die Luftröhre getroffen.
Paco gab einen krächzenden Laut von sich - es war der erste Atemzug ohne den Umweg über Nase oder Mund!
Vitus ergriff rasch ein Röhrchen, das wie ein hölzerner Schilfhalm aussah, und steckte es schräg nach unten in die geschaffene Öffnung, so weit, bis er sicher sein konnte, dass es fest in der Luftröhre saß. Dann bat er Tirzah um ein Emplastrum, in dessen Mitte er ein Loch für den Holzhalm schnitt. Anschließend fixierte er Pflaster und Halm mit einem Verband um den Hals.
Paco atmete mittlerweile fast wieder regelmäßig, seine Bewegungen wurden ruhiger.
Vitus blickte auf. Die Mutter hatte die ganze Zeit mit geschlossenen Augen neben ihnen gestanden und stille Hilferufe an Gott den Allmächtigen gesandt.
»Eure Gebete sind erhört worden, Senora! Das Kind ist gerettet.« Die Bäuerin fiel auf die Knie und versuchte, Vitus' Hand zu küssen.
Er war peinlich berührt. »Lasst das, bitte. Ich habe nur getan, was getan werden musste. Habt Ihr noch mehr Kinder?« Die Frau nickte unter Tränen. »Ja, fünf. Alles Mädchen.«
»Die Bräune ist hoch ansteckend, sie tritt sehr häufig bei Kindern unter zehn Jahren auf, aber man hat auch schon von Erwachsenen gehört, die sie bekommen haben. Am besten, Ihr haltet dieses Kind von Euren anderen fern, damit sie sich nicht auch noch anstecken.«
Abermals füllten sich die Augen der Frau mit Tränen.
»Beruhigt Euch, Senora, noch ist es ja nicht so weit. Erst wollen wir sehen, dass wir Euren Stammhalter«, er unterbrach sich, »wie heißt Paco überhaupt weiter ...?«
»Utrillos. Ich selbst bin Belleza Utrillos.«
»... dass wir den kleinen Utrillos wieder gesund bekommen, Senora. Meine Assistentin gibt Euch dazu ein fiebersenkendes Mittel mit, das Ihr ihm dreimal täglich mit etwas Milch einflößt. Ihr werdet sehen, er erholt sich schnell. Mit fortschreitender Gesundung werden auch die Atemwege wieder abschwellen. Besucht mich mit Paco in zwei Tagen wieder, ich denke, wir können ihm dann die Atmungshilfe entfernen.«
»Kann er denn überhaupt etwas essen, jetzt, wo ihm dieses Ding im Hals steckt?«
»Ja, denn die Nahrungsaufnahme erfolgt durch die Speiseröhre, die von dem Eingriff ja nicht betroffen ist, dennoch: Pacos Rachen ist so zugeschwollen,
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