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Der Wanderchirurg

Der Wanderchirurg

Titel: Der Wanderchirurg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serno Wolf
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»dass wir unserem Bären die Eckzähne nicht ausgebrochen haben?« Er wies hinüber zu der Kiefer, in deren Schatten Zarpo döste. Das Tier hatte reichlich Nüsse bekommen, dazu, dem besonderen Anlass entsprechend, einen mit Honig bestrichenen Fladen Brot. »Trotzdem wird man oftmals als Bärenschinder gescholten, dabei lieben wir Zarpo, und Zarpo liebt uns. Wenn wir ihm heute die Freiheit geben würden, müsste er verhungern.«
    »Wahrscheinlich hast du Recht, so hab ich's noch gar nicht gesehen«, antwortete Arturo.
    »Die Bären in Spanien haben mit uns Zigeunern viel gemeinsam: Sie werden ebenso verfolgt. Da ist es nur natürlich, dass wir uns zusammentun. Wir Zigeuner haben keine geschriebene Geschichte, weshalb alle Welt glaubt, wir hätten keine Vergangenheit. Und keine Zukunft. Wir haben kein Land, das uns gehört, keinen König, der uns regiert, keinen Besitz, keine Ansprüche, keine Fürsprecher
    ... Unser einziger Hort ist die Familie. Aus ihr schöpfen wir Kraft.« Vitus, der mit einem Ast in der Glut stocherte, blickte zu Roman hinüber und dachte, dass ihm selbst es auch nicht besser erging, im Gegenteil, er hatte nicht einmal eine Familie. Wieder fiel ihm Santander ein, der Ausgangspunkt für seine eigentliche Suche. Würde Tirzah ihn nach England begleiten? Und: Wollte er das überhaupt?
    »Da kommt Tirzah!« Der Magister hielt triumphierend sein Nasengestell hoch. »Ich habe sie als Erster entdeckt!
    Sie ist in Begleitung von Preciosa.«
    Beide Frauen waren hinter einer Buschgruppe aufgetaucht und steuerten gemächlichen Schrittes das Lager an. Jetzt legte Preciosa Tirzah die Hand auf die Schulter und sprach auf sie ein. Dann nickte sie und ging zu ihrem Wagen. Vitus sah, dass Tirzah auf ihn zukam. Aus irgendeinem Grund, er wusste nicht, aus welchem, begann sein Herz schnell und hart zu klopfen. Ihr Gesichtsausdruck wirkte entschlossen. Was mochte sie wollen?
    »Vitus, bitte«, sagte Tirzah, ohne die Umsitzenden zu beachten, »ich muss mit dir reden.« Ihre Augen wanderten zur anderen Seite des Lagers.
    »Ich komme.« Er erhob sich und folgte ihr. Als sie außer Hörweite waren, blieb Tirzah vor einem Ginsterbusch stehen und sah ihm direkt in die Augen.
    »Vitus«, flüsterte sie, »Vitus, ich ...«
    »Ja?« Ein eiserner Ring legte sich um seine Brust.
    »Vitus, ich werde morgen mit den Dukanas weiterziehen:«
    Jetzt, wo es heraus war, fühlte sie sich befreit. »Sie fahren zurück nach Süden, dahin, wo es immer warm ist, in die Sonne, in die Heimat.«
    »Aber, aber ...« Er merkte nicht, dass er stotterte. »Ich wollte doch mit dir nach England.«
    »Wolltest du das wirklich?«
    »Ja, das wollte ich«, antwortete er und kam sich schäbig vor, dass er nicht die Wahrheit sagte. »Das heißt, ich war noch nicht ganz sicher. Aber wir gehören doch zusammen.«
    »Nein, Vitus.« Sie lächelte traurig. »La patria - del Gitano es la propria sangre, wie wir Zigeuner sagen. »Die Heimat des Gitanos ist sein eigenes Blut.« Ich werde mit den Dukanas reisen und wieder eine Familie haben. Preciosa nimmt mich auf.«
    »Aber du kennst sie doch gar nicht.«
    »Ich kenne sie nicht. Aber sie kennt mich. Sie erzählte mir, dass sie mich als kleines Mädchen öfter in den Armen meiner Mutter sah. Sie sagt, ich könnte bei ihnen bleiben, so lange ich will. Oder auch zum Rest meiner Familie zurückgehen.«
    »Und was sagt Roman?«
    »Roman würde sich über eine weitere Tochter freuen.«
    »Ja dann ... Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Hilflos zuckte er mit den Schultern.
    »Dann sag nichts.«
    Er sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, während sie seinen Kopf zu sich herabzog.
    »Leb wohl, mein wundervoller Arzt.«

Der Wirt Pancho

    »Schrei nicht so. Hier haben die Wände Ohren!«
    D er schwere Mann tat einen unbeholfenen Sprung und landete auf der Mole. Er taumelte leicht, fing sich aber noch rechtzeitig, bevor er gegen einige leere Wasserfässer prallte. »Ihr wartet hier, bis ich zurück bin«, knurrte er die sieben Matrosen an, die ihn mit dem Beiboot übergesetzt hatten. »Keiner verlässt den Kahn.«
    »Jawohl, Bootsmann.«
    »Und haltet euer gottverfluchtes Maul!« Der Blick des Mannes glitt nach Westen über das Wasser des Hafens von Santander, das an diesem Spätnachmittag wie flüssiges Erz war. Es herrschte kaum Wind, nur hier und da kräuselte die See sich leicht. Ein paar Küstensegler waren unterwegs, einmastige Schaluppen mit Lateinersegel, die respektvoll an einer mächtigen Galeone

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