Der Wanderchirurg
vorbeilavierten. Der große Segler ankerte draußen, etwa eine halbe Meile vor dem Hafen, im tieferen Wasser. Bis vor wenigen Tagen jedoch hatte die Cargada de Esperanza noch auf dem Helgen der Schiffswerft gelegen, zerschunden von einem Sturm, den sie auf dem Westmeer abgewettert hatte. Jetzt war sie wieder ein stolzer Anblick, eine viermastige Galeone, die über insgesamt neun Segel verfügte, Rahsegel und Lateinersegel, und zweiundvierzig Kanonen, dazu vier Drehbassen für den Nahkampf.
Die Augen des Bootsmannes wanderten weiter zu den Hafenanlagen, den Kränen, Warenstapeln, Trossen und schweren Eisenringen, an denen die Leinen der ankommenden Schiffe festgemacht wurden. Die Luft schien rein zu sein an diesem windstillen Sonntag. Niemand beachtete sie. Die Sonne würde in wenigen Minuten untergehen.
Der Bootsmann riss seinen Blick los. »Wenn man euch fragt, von welchem Schiff ihr seid, sagt ums Verrecken nicht Cargada de Esperanza, lasst Thorkil irgendwas auf Norwegisch antworten, das versteht hier keiner. Ansonsten stellt ihr euch blöd, was euch ja nicht schwer fällt.« Einige im Boot lachten pflichtschuldigst. »Noch mal: Wer sich aus dem Staub macht, schmeckt die Neunschwänzige.«
»Jawohl!« Der Bootssteurer an der Pinne grüßte zackig. Besänftigt wandte der schwere Mann sich ab und schritt schnell die Mole entlang, bis er den Kai erreicht hatte, wo er alsbald im Schatten der Schuppen verschwand. Es war nicht notwendig, dass man ihn sah. Vorsichtig setzte er seine Schritte im Halbdunkel weiter. Es roch nach Schlick, Kot, faulem Fisch und Pech. Eine Ratte huschte vor ihm davon, er sprang beiseite und hätte vor Schreck fast aufgeschrien. Trotz seines wuchtigen Körpers und seiner Stellung an Bord gehörte er nicht zu den Mutigsten. Als er in der Altstadt angekommen war, bog er in eine enge Gasse ein, an deren Ende ein zweistöckiges, windschiefes Holzgebäude stand. Es war ein über hundert Jahre altes Haus, das schon bessere Tage gesehen hatte. Ein Engländer hatte es vor dreißig Jahren erworben und eine Herberge mit Schankbetrieb daraus gemacht. Seitdem hieß es El Ingles. Diese Bezeichnung war geblieben, auch als der Engländer gestorben war und ein neuer Wirt die Herberge übernommen hatte. Der jetzige nannte sich Pancho, was nicht sein richtiger Name war - aber der tat, wie vieles in diesem Haus, nichts zur Sache. Der Bootsmann umkurvte das Gebäude und bestieg auf der Rückseite eine Holztreppe, die außen an der Hauswand emporführte. Im zweiten Stock angelangt, verhielt er schwer atmend. »Pancho?«
»Pssst!« Eine Fensterlade öffnete sich. »Hier bin ich.«
Die Stimme gehörte einem dicken, bartlosen Kopf.
»Komm durchs Fenster, Battista.« Die blauschwarzen, glatt rasierten Wangen des Wirts zitterten bei jedem Wort. Der Bootsmann zwängte seinen schweren Körper durch die schmale Öffnung. »Hättest gern einen anderen Raum für unser Schäferstündchen aussuchen können«, brummte er. »Ging nicht. Bin fast komplett belegt.« Pancho schenkte zwei kleine venezianische Gläser mit einer gelblichen Flüssigkeit voll. »Trink.«
»Was ist das?«
»Izarra, guter baskischer Likör, der hebt die Laune, wärmt den Magen und hält dazu die Stange steif!« Pancho lachte glucksend.
»Sehr witzig.« Dem Bootsmann war nicht zum Scherzen zumute.
»Salud.« Pancho hob sein Glas.
»Salud.«
Nachdem beide getrunken hatten, wischte Battista sich den Mund. »Zum Geschäft. Wie viele hast du?«
»Keinen.«
»Waaaaas? Sag das noch mal.«
Pancho zuckte mit den Schultern. »Tut mir Leid. Die Zeiten sind schlecht.«
Battista dachte an den Ärger, den er bekommen würde.
»Du hast wirklich keinen?«
»Nein. Ich kann mir keine aus den Rippen schneiden. Nach der Bartholomäusnacht, anno 72, ging das Geschäft eine Zeit lang gut, wie du weißt, aber in den letzten Monaten ...« Abermals zuckte der Wirt mit den Schultern. Battista war um Fassung bemüht. »Ich kann versuchen, meine Vorgesetzten für einen oder zwei Tage zu vertrösten.«
»Ich tu, was ich kann.«
»Ich brauche welche, verdammt noch mal, und du hast sie mir zugesagt.«
»Schrei nicht so. Hier haben die Wände Ohren!«
»Ich scheiß auf deine Wände! Wenn du nicht bald lieferst, wird deine Bruchbude den Roten Hahn kennen lernen.« Battista erhob sich wütend.
»Ja doch, ja! Ich tu, was ich kann, wirklich!« Der Wirt schien eingeschüchtert. Er zog den Bootsmann wieder zurück auf den Stuhl. »Komm, trink noch einen.« Er schenkte
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