Der Wanderchirurg
schlechter Beleuchtung und mangelnder Erfahrung, die Ruhe bewahrt und konzentriert gearbeitet. Das Skalpell war von ihr die ganze Zeit sicher geführt worden, nur einmal hatte sie entsetzt aufgeschrien. Er war hochgefahren und hatte schon das Schlimmste befürchtet, aber es war nur ihre Reaktion auf den Eiterstrahl gewesen, der ihr plötzlich aus dem Empyembereich entgegenschoss. Später dann hatte sie nach seinen Anweisungen einen Eiterabfluss gesetzt, denn auch nach erfolgreichem Eingriff pflegten sich noch eine Zeit lang Giftstoffe zu bilden.
Als die letzten Operationsspuren beseitigt waren, ergriff er das Handgelenk der Kranken, deren Oberkörper von Tirzah züchtig abgedeckt worden war. Der Puls der Senora schlug etwas stärker als am Vortag, wie er zufrieden feststellte, auch ihr Schlaf war besser geworden, sie atmete insgesamt tiefer und ruhiger.
Mit Gottes Hilfe würde sie genesen.
Er dachte daran, dass ihr Ehemann spätestens übermorgen wieder im Lager erscheinen würde, und er hoffte, die Kranke würde bis dahin reisefähig sein, denn auch ihn zog es weiter. Er wollte nach Santander, wollte endlich dort ankommen. Flüchtig dachte er an Tirzah und daran, was aus ihr werden würde, wenn er sich nach England einschiffte, schließlich liebte er sie ... Allerdings konnte er sich nur schwer vorstellen, sein gesamtes künftiges Leben mit ihr zu teilen. Wie immer an dieser Stelle schob er den Gedanken beiseite. Kommt Zeit, kommt Rat, sagte er sich. Santander jedenfalls war in greifbare Nähe gerückt. Man schrieb jetzt Anfang Oktober, und er rechnete damit, spätestens in einer Woche die Küstenstadt zu erreichen. Der Eitergestank hatte sich verzogen.
Er schloss die Tür und ließ die Fensterläden einen Spalt offen. Dann streckte er sich müde neben Tirzah aus. Zwei Tage später kreuzte Lopez mit seinen Kindern auf. »Wir sin vonner Küste«, nuschelte er zur Begrüßung, während er seine Kappe zwischen den Händen drehte.
»Ich weiß, Ihr habt es uns beim letzten Mal schon verraten.« Vitus war dabei, mit Tirzahs Hilfe ein starkes Brechmittel aus Essig und Senf anzurühren. Ein kleiner Junge lag gekrümmt vor ihm und hielt sich den Leib. Seine Mutter hatte ihn am Vorabend gebracht und den Verdacht geäußert, der Junge hätte heimlich Vogelbeeren gegessen und sich daran vergiftet. Vitus und Tirzah hatten zunächst versucht, ihm Milch einzuflößen, doch der Junge war nicht in der Lage gewesen, sie aufzunehmen. Statt der Giftbeeren, die seinen Köper von innen zerstörten, hatte er immer wieder nur den Kuhsaft erbrochen, und die Gaffer, die dem Geschehen mit langen Hälsen zusahen, hatten auch nicht helfen können.
»Senfkörner brauchte ich! Gute, scharfe Senfkörner für ein wirksames Brechmittel!«, hatte Vitus schließlich verärgert ausgerufen, denn Tirzahs gesamter Vorrat war für die Senfpackungen der Senora draufgegangen.
So hatte er dem Jungen zunächst ein Schlafmittel mit Opium verabreicht, in der Hoffnung, ihm würde es am anderen Morgen besser gehen.
Doch das war nicht der Fall gewesen. Stattdessen hatte Vitus Senfkörner erhalten. Sie befanden sich in einem Säckchen, das am selben Platz wie die Schröpfkugeln abgelegt worden war. Wieder war ein Zettel dabei gewesen:
Für Vitus von Campodios. Von einem, der es gut meint.
»So, das Brechmittel ist fertig.« Vitus flößte es dem Jungen ein und sah mit Erleichterung, wie er fast im selben Augenblick zu würgen begann. Klumpige, rotbraune Brocken quollen ihm aus dem Mund.
»Für die Behandlung Eurer Frau, Senor, ist meine Assistentin zuständig«, sagte er, Lopez' Frage vorausahnend. Der Mann von der Küste drehte den Kopf, bis Tirzah in seinem Gesichtsfeld erschien. Sie stand zwei Schritte entfernt, Mörser und Stößel noch in der Hand.
»Die Frau soll mit zurück.«
»Ihr könnt froh sein, dass Senora Lopez überhaupt noch lebt!« In Tirzahs Stimme schwang Ärger mit. Sie verkniff sich, den Mann über die Schwere der Operation aufzuklären. Genauso gut hätte sie gegen eine Mauer sprechen können. »Kommt mit, und helft Eurer Frau auf. Wenn Ihr langsam und vorsichtig an die Küste zurückfahrt, mag es mit dem Transport gehen.«
»Ja, so.« Lopez stand mit offenem Mund da. »Ich sagte, helft Eurer Frau. Sie kann noch nicht alleine gehen.«
»Ja, so, ja.« Endlich setzte sich der Mann in Bewegung. Die Kinder folgten ihm langsam.
Die Patientin saß vor Tirzahs Wagen auf einem Baumstumpf. Sie war fieberfrei. Ihre Augen wirkten wieder
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