Der Wanderchirurg
graugrüne Wellen, die hin und wieder eine Schaumkrone trugen. Der massive vordere Aufbau, der ihnen den Blick auf die Galionsfigur, eine Nachbildung der Schwarzen Madonna von Montserrat, verwehrte, hob und senkte sich im Takt der heranziehenden Wogen. Dann und wann schossen Gischtspritzer am Bug empor, so hoch, dass sie sogar das Backsdeck unter Wasser setzten. Vitus sah jetzt, wie sinnvoll der Ort für die Feuerstelle gewählt war, denn sie befand sich wind-und wassergeschützt hinter dem vorderen Kastell. Fernandez blickte auf das Stundenglas mit seinem durchlaufenden Sand und dann zum Himmel.
»Ich denke, die Sonne steht jetzt am höchsten, doch ich werde zur Sicherheit die Messung in zehn Minuten wiederholen.« Er griff neben sich, wo in einem Schapp unter dem Schanzkleid mehrere Instrumente verstaut waren, und holte ein Holzgerät hervor, das wie ein Kreuz aussah - bestehend aus einem Längs-und einem Querstab. Er nahm es am langen Ende und richtete es wie ein Schwert in die Sonne, gleichzeitig stellte er den Querstab senkrecht auf. Dann kniff er das linke Auge zusammen und begann den Querstab vor-und zurückzuschieben, bis sein oberes Ende in der Mitte des Sonnenballs lag und das untere genau auf der Linie des Horizonts. Anschließend fixierte er mit einer kleinen Schraube die Stellung des Querstabs und legte das Gerät zurück auf die Reling.
»Was um alles in der Welt habt Ihr da gemacht?«, platzte der Magister heraus.
»Ich habe die Höhe der Sonne über der Kimm festgestellt, um unsere Breitenposition zu bestimmen«, antwortete Fernandez, während er sich das von der Sonneneinwirkung tränende Auge rieb.
Der kleine Gelehrte staunte. »Wie? Mit diesem Ding da?«
»Genau.« Fernandez blinzelte ein paar Mal. »Dieses Ding nennt man Kreuzstab. Ihr wollt sicher wissen, wie die Messung damit im Einzelnen vonstatten geht, doch dazu muss ich etwas weiter ausholen.«
»Nur zu, wir haben Zeit.« Der Magister lehnte sich bequem an die Reling unter der Hecklaterne, während Vitus sich gespannt vorbeugte. Mittlerweile war Don Alfonso zu Najera gestoßen, der gelangweilt an der Backbordreling auf und ab stolzierte.
»Gut«, hob Fernandez an, »vielleicht ein Wort vorweg: Es klingt ein wenig verwirrend, wenn man davon spricht, die »Höhe« zu nehmen, um die »Breite« festzustellen. Nun, mit der »Höhe« ist, ich sagte es eben, die Höhe der Sonne über dem Horizont gemeint. Mit der Breite ist es etwas komplizierter. Wie Ihr sicher wisst, ist die Erde eine Kugel ...«
»... auch wenn das manche kirchliche Herren noch immer nicht wahrhaben wollen!«, unterbrach der Magister, der sich die Bemerkung nicht verkneifen konnte.
»... eine Kugel, die man, um die Navigation überhaupt zu ermöglichen, in Breiten-und Längengrade eingeteilt hat. Bleiben wir zunächst bei den Breitengraden. Man kann sie sich am besten als unsichtbare Linien vorstellen, die sich waagerecht um unseren Globus herumziehen. Die längste Linie verläuft naturgemäß um die Mitte, wir nennen sie Äquator. Sie entspricht 0 Grad. Nach Norden, wie auch nach Süden, werden die Breitengrade von 0 bis 90 eingeteilt. Je höher, beziehungsweise tiefer, der Breitengrad verläuft, desto kürzer die Umlauflinie um den Globus. Der Breitengrad 90 ist keine Linie mehr, sondern praktisch ein Punkt - der Pol. Den 10. Breitengrad nördlich des Äquators, um ein Beispiel zu nennen, bezeichnet der Navigator als »10 Grad nördlicher Breite« - entsprechend »10 Grad südlicher Breiten Santander, unser Ausgangspunkt, liegt ungefähr auf 43,5 Grad nördlicher Breite, unser Reiseziel, der Golf von Guinea, etwa auf 1 Grad nördlicher Breite, so weit alles klar?« Die Freunde nickten. »Klar.«
»Um festzustellen, auf welcher Höhe man sich in NordSüd-Richtung, oder auch Süd-Nord-Richtung, befindet, muss man wissen, dass die Erde sich selbst und gleichzeitig auch um die Sonne dreht. Diese Bewegungen bringen es mit sich, dass die Sonne scheinbar im Osten aufgeht und im Westen unter. Auf ihrer Bahn, die sie während des Tages zurücklegt, steht sie mal tiefer und mal höher am Himmel, am höchsten jedoch am Mittag.«
»Auch klar.«
»Der entscheidende Punkt ist, dass der höchste Stand der Sonne durchaus unterschiedlich hoch ist - je nachdem, auf welchem Breitengrad man sich befindet. Der Höchststand der Sonne hier vor der afrikanischen Küste beispielsweise liegt höher als der von Santander.«
»Jetzt dämmert's mir langsam«, rief der Magister, »und aus dem
Weitere Kostenlose Bücher