Der Wanderchirurg
Höhenunterschied leitet Ihr den Breitengrad ab.«
»Das heißt«, schaltete Vitus sich ein, »dass Ihr eine bekannte Vergleichsgröße haben müsst.«
»So ist es, Senores!« »Und es heißt außerdem, dass es irgendwelche Aufzeichnungen geben muss, aus denen hervorgeht, wie dieser Unterschied sich auf den Breitengrad auswirkt«, setzte Vitus nach. »Richtig«, freute sich Fernandez, »es gibt entsprechende Tabellen.«
»Und wie ist nun der von Euch festgestellte Wert? Ich habe Euch nur den Querstab bewegen sehen, auf diese Weise könnt Ihr ihn wohl kaum ermittelt haben?«
»Doch, denn ich habe den Querstab fixiert! Seht her.«
Der Steuermann hielt den beiden das Gerät dicht unter die Augen. Erst jetzt bemerkten sie, dass auf dem Längsstab eine Messingskala eingelassen war. »Dort, wo der Querstab fixiert wurde, lese ich auf der Skalierung den Zahlenwert ab, den ich dann in meinen Tabellen wieder finde, mit dem Hinweis, auf welchem Breitengrad ich bin.«
»Und auf welchem sind wir?« Der Wissensdurst des Magisters war wieder einmal unersättlich.
Fernandez lachte. »Um Euch das genau zu sagen, müsste ich in meine Kajüte gehen, wo die Tabellenbücher liegen, aber wir dürften auf ungefähr 35,5 Grad nördlicher Breite liegen, das heißt, wir segeln zehn, zwanzig Meilen südlich der Höhe von Tanger.«
Vitus überlegte: »Aber bei Euren Berechnungen dürft Ihr nicht übersehen, dass die Sonne zu verschiedenen Jahreszeiten unterschiedlich hoch am Himmel steht, man kann, sagen wir, eine Mittagsmessung in Tanger vom heutigen Tag nicht mit der Mittagsmessung eines anderen Orts vergleichen, die vom 20. Juni stammt. Der Vergleich funktioniert nur dann, wenn von diesem Ort ebenfalls eine Mittagsmessung vom heutigen Tag vorliegt.«
»Und«, nahm der Magister den Faden auf, »da Ihr Eure Messung täglich durchführt, müsst Ihr von Eurer Vergleichsgröße den Wert für jeden Tag im Jahr kennen, also insgesamt dreihundertfünfundsechzig Werte.«
»Ihr habt in allen Punkten Recht, Senores. Ich bin beeindruckt, man merkt, dass Ihr es gewohnt seid, wissenschaftlich zu denken.« Fernandez notierte sich die von der Messingskala abgelesene Zahl. Dann übergab er Vitus den Kreuzstab, damit er ihn näher betrachten konnte.
»Und wie weit befinden wir uns westlich von Tanger?«, fragte der Magister, von Fernandez' Lob angeregt.
»Westlich von Tanger? Das genau festzustellen, Magister Garcia, ist ungleich schwieriger, um nicht zu sagen unmöglich. Wie ich Euch erklärte, kann jeder fähige Navigator die geographische Breite anhand der Sonne bestimmen, schließlich geht sie jeden Tag auf und auch jeden Tag wieder unter, und wenn sie einmal von Wolken verdeckt wird, dann erscheint sie eben am nächsten oder übernächsten Tag, aber es gibt bis heute keinen Piloten, der exakt die geographische Länge berechnen kann. Denn wonach soll er sich richten? Angenommen, er führe, seinem Kompass folgend, direkt nach Westen, das würde bedeuten, dass jeden Morgen die Sonne in seinem Rücken aufgeht, und jeden Abend vor seinen Augen unter. So weit, so gut, aber woher soll er wissen, welche Strecke er zurückgelegt hat? Natürlich kann er gissen lassen und dadurch ...«
»Gissen lassen? Was heißt gissen?«, unterbrach der Magister. »Entschuldigt, das könnt Ihr ja nicht wissen: Um die Geschwindigkeit eines Schiffs zu messen, wirft man am Bug die so genannte Logleine aus, das ist eine Leine, in die in gleichmäßigen Abständen Knoten geknüpft sind. An ihrem Ende befindet sich das so genannte Logscheit, ein Holzbrett, das flach auf dem Wasser schwimmt. Das Logscheit treibt achteraus und zieht die Leine mit den Knoten hinter sich her. Nach einer bestimmten Zeit stellt man fest, wie viel Leine mit wie vielen Knoten ausgelaufen ist. Wenn es beispielsweise drei Knoten sind, sagt man, »das Schiff läuft drei Knoten«. Bei regelmäßiger Messung kann man unter idealen Bedingungen ungefähr feststellen, wie weit man sich in vierundzwanzig Stunden fortbewegt hat. Diese Entfernung zählt man zu der vom Vortag hinzu und erhält einen neuen Standort, den »gegissten Ort«. Nach dieser Methode hat sich übrigens auch Kolumbus über das große Meer vorgetastet, anno 1492 ... Doch wie gesagt, das Problem ist bis heute nicht gelöst, auch wenn sich erfahrene Kapitäne durch genaue Beobachtung der Winde, Strömungen, Wasserfarben, Walarten, Seevögel und Ähnliches behelfen können. Die Festlegung der Längenposition ist und bleibt ein Rätsel,
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