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Der Wanderchirurg

Der Wanderchirurg

Titel: Der Wanderchirurg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serno Wolf
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meiner Meinung nach übrigens nur aus einem einzigen Grund.«
    »Und der wäre?« Vitus reichte den Kreuzstab an den Magister weiter. Der kleine Mann rückte eifrig seine Berylle zurecht, um das Gerät in allen Einzelheiten bestaunen zu können.
    »Meiner Theorie nach liegt der Grund darin, dass es noch keine seetauglichen Präzisionsuhren gibt, Senores.«
    »Uhren, wieso Uhren?«, fragte Vitus, während der Magister probehalber den Stab in die Sonne hielt.
    »Nun, ich muss erneut ein wenig ausholen.« Fernandez'
    Blick ging zum westlichen Horizont, wo er kurz verweilte, dann kam er zur Sache: »Wie Ihr wisst, braucht die Erde für eine ganze Drehung von dreihundertsechzig Grad genau vierundzwanzig Stunden - also einen Tag. Das für sich allein ist noch nichts Besonderes, doch liegt in dieser Tatsache der Schlüssel zur Lösung. Interessant wird es nämlich, wenn man bedenkt, dass die Erde in, sagen wir, einer Stunde somit ein Vierundzwanzigstel ihrer Eigendrehung bewältigt. Das bedeutet: Sie bewegt sich um ein Vierundzwanzigstel von dreihundertsechzig Grad weiter, also um fünfzehn Grad.« Der Steuermann blickte Vitus fragend an, während der Magister versunken mit dem Zeigefinger über die Skalierung des Kreuzstabs fuhr.
    »So weit klar«, nickte Vitus und wiederholte: »Die Erde dreht sich in einer Stunde um fünfzehn Grad weiter.«
    »Wenn jetzt der Pilot eines Schiffs, das sich auf See befindet, mittags beim Höchststand der Sonne seine Schiffsuhr auf 12 stellt, braucht er nur noch eine zweite Uhr, die ihm die Zeit seines Ausgangshafens anzeigt. Beträgt der Unterschied eine Stunde, weiß er, dass er sich um fünfzehn Grad westlicher oder östlicher Länge von seinem Startpunkt entfernt hat.« Vitus brauchte einen Augenblick, um diesen Gedankengang nachzuvollziehen.
    »Je nachdem, ob die Schiffsuhr eine Stunde mehr oder weniger anzeigt«, ergänzte er dann.
    »Richtig. Liegt die Uhrzeit des Ausgangspunkts eine Stunde hinter der Schiffsuhr zurück, also 11, befinde ich mich auf östlichem Kurs ...«
    »... und bei 1 Uhr auf westlichem.«
    »Genau.« Fernandez redete sich langsam warm bei seinem Lieblingsthema. »Allerdings muss man bedenken, dass fünfzehn Grad Länge, auf Entfernung umgerechnet, gewaltige Unterschiede in sich bergen. Am Äquator, wo der Erdumfang am größten ist, entsprechen sie einer riesigen Strecke, doch zu den Polen hin wird diese Strecke immer geringer und nähert sich der Null. Wie groß die Entfernung meiner fünfzehn Grad ist, hängt also vom Breitengrad ab, dessen Berechnung ich Euch bereits erklärte.«
    »Auf diese Weise hättet Ihr beide Koordinatenwerte, um jeden Punkt der Erde zu ermitteln.«
    »Wäre da nicht das Problem der präzisen Zeitmessung auf dem Meer, Vitus! Wie ich schon sagte, gibt es keine ausreichend genauen seefesten Uhren. Bedenkt, dass ein Schiff manchmal Monate, vielleicht Jahre auf den Ozeanen fährt und während dieser ganzen Zeit der Chronometer, den Ihr im Ausgangshafen an Bord genommen habt, kaum Gangabweichungen aufweisen darf, trotz Hitze und Kälte, trotz Salz und See und Luftfeuchtigkeit, trotz ständigen Schlingerns, Stampfens und Arbeitern des Schiffskörpers!
    Bedenkt weiterhin, dass schon wenige Grad an Ungenauigkeit sich zu einer Fehlberechnung von vielen hundert Meilen auswirken können. Nein, nein, eine solche Uhr ist noch nicht erfunden, und ich werde es wohl auch nicht mehr erleben.« Fernandez seufzte und fixierte abermals den Horizont im Westen. Über der Kimm waren einige dunkle Wolkengruppen aufgezogen.

    Auch Najera und Don Alfonso blickten angestrengt dorthin, wobei sie fast den Halt verloren, denn die Galeone lehnte sich in diesem Augenblick stark nach Backbord über.
    »Hooo! Segel an der Kimm!«, erscholl gleichzeitig Henris Stimme vom Fockmast herab.
    Fernandez blickte auf und formte die Hände zu einem Trichter: »Nationalität feststellen!«
    »Ich glaube, es ist ein Engländer, Steuermann!« Wieder krängte die Cargada stark.
    »Rudergänger, welcher Kurs liegt an?«
    »Befohlener Kurs Südwest zu Süd, Steuermann!«, ertönte prompt von unten die Antwort. »Habe soeben aber nach Süd korrigiert.« Der Mann am Kolderstab, unsichtbar für die Männer auf dem Kommandantendeck, hatte selbsttätig gehandelt, und das war gut so, denn durch die jählings im rechten Winkel von Steuerbord einfallenden Böen drohte das Schiff zu kentern.
    »Gut gemacht«, rief Fernandez und ärgerte sich insgeheim, dass er über seinem Vortrag die

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