Der Wanderchirurg
Schiffsführung vergessen hatte. Die Tatsache, dass Najera oder Don Alfonso genauso auf die Windveränderung hätten achten können, vermochte ihn wenig zu trösten.
»Wir gehen mit dem Heck durch den Wind! Bootsmann Battista!«
»Steuermann?«
»Fertig machen zur Halse, neuer Kurs Ostsüdost!«
»Jawohl, Steuermann, fertig machen zur Halse, neuer Kurs Ostsüdost!«, bestätigte Battista vom Hauptdeck aus, um anschließend die Männer der Wache an die Brassen zu scheuchen. »Neuer Kurs Ostsüdost!«, wiederholte auch der Rudergänger und betätigte den Kolderstab, einen vertikal verankerten Hebel, mit dessen unterem Ende die schwere Ruderpinne bewegt wurde.
»Was fällt Euch ein, Fernandez!« Urplötzlich stand Najera vor dem Steuermann und spuckte Gift und Galle.
»Wie kommt Ihr dazu, mir die Befehlsgebung aus der Hand zu nehmen? Glaubt Ihr, ich könnte mein Schiff nicht alleine führen?« Das glaubte Fernandez allerdings, doch hütete er sich, es laut zu sagen. Stattdessen nahm er stramme Haltung an. »Ich bitte um Verzeihung, Capitan, ich wollte Euch nur entlasten. Selbstverständlich hättet Ihr dieselben Befehle erteilt wie ich.«
»Soso, und warum sollte ich das getan haben?«, knurrte der eitle Mann.
»Weil Euch die gefährliche Krängung des Schiffs natürlich genauso aufgefallen ist, Capitan.«
»Das ist sie allerdings«, schnarrte Najera.
»Andererseits: Die Cargada ist ein gutes Schiff, das sich nicht gleich von jedem Lüftchen umpusten lässt.«
»Mit Respekt, Capitan, aber die Cargada ist recht wacklig in den Verbänden. Auch habe ich an den sich nähernden Engländer gedacht. Man weiß bei diesen Burschen nie, was sie im Schilde führen.«
»Papperlapapp!« Najera ließ Fernandez stehen wie einen dummen Jungen und schrie übers Schiff: »Befehl belegt! Alten Kurs wieder aufnehmen!«
»Recht so, Capitan!«, schmeichelte Don Alfonso im Hintergrund. Aufgescheucht wie ein Hühnerhaufen beeilte sich die Besatzung, den Befehl ihres Kommandanten auszuführen. Endlich drehte sich der Bug wieder nach Steuerbord, als eine erneute Bö, viel stärker noch als die beiden zuvor, von der Seite in die Segel schlug. Das war der Tod der Cargada. Sie neigte sich so stark über, dass ihre Backbordreling ins Meer eintauchte. Leinen brachen. Segel flatterten. Blöcke krachten herab. Verzweifelte Schreie gellten über die Decks. Wer sich nicht festhielt, schlitterte Hals über Kopf in die See. Dann, plötzlich, erklang ein Rumpeln im Vorschiff, grollend und gefährlich wie aus dem Bauch eines urweltlichen Tiers: Zwei Steuerbordgeschütze hatten sich losgerissen, polterten tonnenschwer abwärts und rissen ein scheunentorgroßes Loch in die Schiffswand. Wasser schoss tosend in den Leib der Cargada. Sie verlor übergangslos an Fahrt, wodurch der Fockmast, in dessen Mars der arme Henri saß, zerbarst. Sein Todesschrei klang hell und spitz und wurde übertönt von einem lang gezogenen Ächzen, das durch das gesamte Schiff lief. Fernandez hatte die Katastrophe mit wachsendem Grauen verfolgt. Cargada de Esperanza, dachte er verzweifelt, während er sich an den Stock der Hecklaterne klammerte. Der Name »Mit Hoffnung beladen« klang jetzt wie ein Hohn. Er schätzte, dass in wenigen Minuten alles vorbei sein würde. »Ich werde meine Cargada nicht im Stich lassen, werde mit ihr die letzte Fahrt antreten«, murmelte er entschlossen.
»Nein, das werdet Ihr nicht!« Eine Hand packte ihn am Oberarm. Fernandez fuhr herum und blickte in die grauen Augen des Cirurgicus. »Ihr werdet Euch zusammennehmen und versuchen zu überleben.«
Fernandez nickte benommen, während er, ohne sich der Sinnlosigkeit seines Tuns bewusst zu werden, den Kreuzstab sorgfältig wegschloss. Vor ihm, am Fuße des nun fast waagerecht stehenden Hauptmasts, entwickelte die Madonna ein Eigenleben und fiel in das alles verschlingende Nass. Die Gebenedeite hatte das Schiff verlassen!
»Kommt jetzt!« Energisch zog Vitus, auf der Innenseite des Schanzkleids stehend, den Steuermann mit sich nach vorn. Der Magister tauchte von irgendwoher auf und schloss sich ihnen an.
Unter den wenigen Männern, die sich auf dem Hauptdeck hatten halten können, erblickte Vitus auch den Zwerg. Enano winkte zu ihnen herüber und kletterte ins Mannschaftslogis, das kaum noch aus dem Wasser ragte. Meine Instrumente!, schoss es Vitus durch den Kopf. Sie befinden sich noch dort. Ich brauche sie! Die Skalpelle, die Lanzetten, die Sonden, die Haken ... und das Buch De morbis, die
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