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Der Wanderchirurg

Der Wanderchirurg

Titel: Der Wanderchirurg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serno Wolf
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Gefallen getan. Als ob du das nicht wüsstest!«
    Ein paar Tage später, nachdem es Doktor Hall durch die Wallwurzauflagen ein wenig besser ging, war es Vitus und dem Magister gelungen, den alten Mann zu einer Operation auf dem Oberdeck zu überreden. Sie halfen ihm hinaus und platzierten ihn auf einem Stuhl mit schräg stehender Rückenlehne. Hall blinzelte in die Vormittagssonne. Bewegungslos wie ein Reptil hielt er die knotigen Hände in die wärmenden Strahlen.
    »Ihr könnt ruhig die Augen ganz schließen, Doktor«, sagte Vitus. »Vertraut mir.«
    »Das tu ich, mein Junge.« In Halls Stimme schwang Unsicherheit mit. Dennoch schloss er die Lider.
    »Sind die Schmerzen in Euren Gelenken heute erträglich?« Hall nickte.
    »Soll ich den Spreizer schon einsetzen, Vitus?«, fragte der Magister dazwischen. Er hielt ein von Vitus selbst geschnitztes, hölzernes Instrument in der Hand, das einem Hufeisen glich. Es sollte dazu dienen, dem alten Mann die Mundwinkel auseinander zu halten.
    »Noch nicht. Vitus wandte sich an Hall: »Sir, Ihr kennt sicher die segensreiche Wirkung eines Schlafschwamms?«
    Der alte Arzt nickte matt. Dann wurde er überraschend energisch. »Ich will nicht bewusstlos sein, will genau mitkriegen, was Ihr macht!«
    »Keine Sorge, Sir, das werdet Ihr. Das Opium aus dem Instrumentenschrank reicht ohnehin nur für eine geringe Dosis. Allerdings muss ich den Schwamm direkt in Eure Mundhöhle drücken, denn die Substanz wirkt nur dann ausreichend, wenn sie in Kontakt mit den Schleimhäuten kommt.« Hall sperrte den Mund so weit wie möglich auf.
    »Setz den Spreizer ein, Magister.«
    »Mach ich ... gut so?« Der kleine Mann überprüfte noch einmal den Sitz des Holzstücks.
    »Ich denke, ja.« Vitus spähte in den Mund und blickte auf das, was von Halls bräunlichen Kauwerkzeugen übrig war. Das Fleisch daneben schimmerte gelblich und gallertartig. Im Oberkiefer waren alle Zähne bis auf zwei ausgefallen. Vitus presste den Schwamm in den Mund und drehte ihn ein paar Mal herum. Hall gab einen erstickten Laut von sich. Der Magister hielt jetzt den Hinterkopf des Doktors. »Wird das Zahnfleisch schon taub, Sir?«
    Hall öffnete die Augen und schloss sie wieder. Vitus wertete das als Bestätigung. Mit dem kräftigen Schnabel eines Pelikans erfasste er den ersten Zahn und versuchte ihn zu lockern. Ein Stück brach ab. Hall atmete tief durch. Vitus nahm das Teilchen mit einer Pinzette heraus und versuchte es erneut. Wieder brach ein Stückchen Zahn ab. So ging es nicht.
    Scheinbar gelassen sagte er: »Der sichtbare Teil der Zähne ist brüchig wie Holzkohle; die Wurzeln allerdings sitzen sehr fest.« Er nahm ein Skalpell zur Hand, das in seiner Form einem Federmesser glich. Am Spreizer vorbei schob er es hinein und begann das eitrige Zahnfleisch fortzuschneiden. Halls knotige Hände ballten sich auf seinem Schoß. Er hatte sichtlich Schmerzen.
    »Leider kann ich Euch keine weitere Dosis mehr geben, Sir, das Opium ist aufgebraucht.« Hall zuckte mit den Schultern.
    Vitus schnitt das Fleisch an den Zahnhälsen auf der gesamten Kieferlänge ab. Es blutete kaum.
    Als der Streifen ans Licht kam, schlug Hall die Augen auf und nuschelte: »Ihr macht das sehr gut, mein Junge.«
    »Danke, Sir.« Vitus schnitt weiteres Zahnfleisch heraus. Aus dem Mund drang fauler Geruch, der zum Glück vom Seewind schnell davongeblasen wurde.
    Die braunen Zahnruinen standen jetzt frei, rötlich gelbliche Flüssigkeit sammelte sich im Mund. Vitus tupfte sie fort und griff dann abermals zum Pelikan. Die Schnabelenden des Instruments konnten jetzt besser die Stümpfe umfassen. Mit geballter Faust und hochkonzentriert schob er das Werkzeug hin und her und bemerkte zu seiner Freude, dass der erste Backenzahn sich lockerte. Er verstärkte seine Bemühungen und hielt wenige Augenblicke später den gezogenen Zahn hoch.
    »Da haben wir einen der Verursacher Eurer Gicht, Sir.«
    »Wenn's nur so war, mein Junge«, seufzte Hall. Der Magister wischte ihm die Lippen ab.
    »Danke, mein Sohn.« Trotz der Qualen schien Hall erleichtert. Seit Jahren war es das erste Mal, dass nicht die Schmerzen seiner Gicht, sondern deren Ursachen behandelt wurden. Im Verlaufe der nächsten Stunde zog Vitus die restlichen Backenzähne. Als alles vorbei war, ergriff Hall Vitus' Rechte und nuschelte: »Danke, mein Junge, so einer wie Ihr hätte meinen Zähnen schon früher über den Weg laufen müssen.«
    »Schon recht, Sir. Wir wollen nun abwarten, ob im Verlauf der

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