Der Wanderchirurg
ausgemacht? Sie war doch nur eine schwache Frau - und höchstens zwanzig Jahre alt!
»Wir arbeiten jetzt schon eine kleine Ewigkeit zusammen, und Ihr wisst noch immer nicht, wie ich heiße«, murmelte er, während er den Schulterverband anlegte. »Mein Name ist Vitus von Campodios.«
»Sehr angenehm.«
Ihre Blicke trafen sich, und abermals war es ihm, als ginge mit ihrem Lächeln die Sonne auf.
Verdammt! Er spürte, dass er schon wieder unsicher wurde. Wieso sprachen der Zwerg und der Magister eigentlich so völlig normal mit ihr? Bei ihnen schien es keinen Unterschied zu machen, ob sie in das Gesicht einer hässlichen alten oder einer schönen jungen Frau schauten. Unsensible Tölpel! Völlig unempfindlich für den Liebreiz einer jungen Lady ...
»He, Magister, he, Enano, legt diesen Burschen zu den anderen! Aber vorsichtig bitte.«
»Wartet, ich helfe euch.« Mit der größten Selbstverständlichkeit packte die Fremde mit an, als die beiden seinen Befehl ausführten.
Vitus stand da und kam sich irgendwie ausgeschlossen vor. »Wenn man's genau nimmt«, begann er mühsam erneut, »ist »Campodios« nicht mein Nachname, sondern nur das Kloster, in dem ich aufwuchs: Campodios in Nordspanien. Meinen richtigen Namen kenne ich nicht, ich bin ihm aber auf der Spur.«
»Was sind schon Namen.« Zum ersten Mal musterte die Fremde ihn ohne den spöttischen Augenausdruck. »Der eine ist von edlem Geschlecht, aber ein Schwein; der andere ein armer Schlucker, aber ein feiner Kerl. Wenn Ihr mich fragt: Mir ist die zweite Sorte lieber.«
»Das habt Ihr großartig gesagt, Lady!« Der Magister ergriff spontan die Hand der jungen Frau und schüttelte sie kräftig. »Mir aus dem Innersten gesprochen.«
»Wui, wuü«, skandierte der Zwerg.
»Da Ihr aber, Cirurgicus, mir nur Euren Vornamen nennen könnt, mag auch der meinige genügen.« Wieder dieser spöttische Gesichtsausdruck!
»Und wie darf ich Euch anreden?« Vitus versuchte, seine Worten nicht allzu aufgeregt klingen zu lassen.
»Arlette.«
Kapitän
Taggart blickte finster vom Kommandantendeck hinab aufs Oberdeck der Falcon, wo die Besatzungsmitglieder aller drei Schiffe angetreten waren. Die Männer hatten ein exaktes Karree vor dem Hauptmast gebildet und trugen eine ungewohnt ernste Miene zur Schau. Die Trauerfeier für die gefallenen Matrosen sollte in wenigen Minuten beginnen. Taggart musterte die Offiziere, die auf dem rechten Flügel Aufstellung genommen hatten, fixierte dann die Decksoffiziere zu seiner Linken und abschließend die Mannschaften ihm gegenüber. Er schätzte die Zahl der Versammelten auf einhundertsiebzig Köpfe, die Lady von der Phoenix nicht mitgerechnet. Sie stand dicht neben dem Cirurgicus und wirkte in ihrem giftgrünen Kleid neben den überwiegend in Grau-oder Brauntönen gekleideten Männern wie ein Paradiesvogel. Er schnaufte. Schönen Frauen stand er von Natur aus skeptisch gegenüber. Allerdings, die Lady dort unten schien erstaunlicherweise nicht nur bildhübsch zu sein, sondern auch einen passablen Verstand zu haben. Eine höchst seltene Kombination, wie er aus Erfahrung wusste. Nun ja, ihn ging das nichts an. Eine Frau an Bord, das war immer ein heikles Ding. Umso wichtiger, dass er die Feier rasch hinter sich brachte, damit Baldwin mit seiner Phoenix weiterkam - und mit ihm die Lady. Ärgerlich nur, dass er sich auch von dem Cirurgicus würde trennen müssen, denn es war natürlich nicht zu verantworten, die Schwerverletzten ohne ärztliche Betreuung auf der Argonaut zu lassen. Er selbst würde sich wieder mit Hall begnügen müssen, dem es aber, Gott sei gedankt, besser ging. So viele Tote! Er wollte nicht in Timothy Evans' Haut stecken, wenn der vor seinen Schöpfer treten und sich dafür verantworten musste ... Taggart schnaufte abermals und bemerkte zu seinem Ärger, dass er gedanklich abgeglitten war. Es half nichts, er musste jetzt ein paar Worte sprechen und die vorgesehenen Bibelworte zitieren. Also sprach er:
»Männer der Argonaut, der Phoenix und der Fal...«
Bei allen plankenfressenden Toredowürmern! Siedend heiß fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, die Lady an erster Stelle anzusprechen ...
»... ahem, und der Falcon: Unter denen, die in den vergangenen Tagen Großartiges geleistet haben, möchte ich als Erstes Lady Arlette nennen, der wir alle zu großem Dank verpflichtet sind! Ohne ihre aufopferungsvolle Pflege stünde es um manchen von uns heute wesentlich schlechter.
Ich habe die traurige Pflicht, Männer,
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