Der Wanderchirurg
er sich immer wieder sagen, während sie darum rang, ihre Fassung wiederzugewinnen. Endlich beruhigte sie sich. Ihr Gesicht war jetzt dem seinen ganz nah, und er spürte den betörenden Duft ihrer Haut.
»Danke, Vitus.« Sie schluckte. »Ich muss furchtbar aussehen.« Zwischen ihren Tränen erschien langsam wieder das bezaubernde Lächeln. »Bitte, bringt mich in meine Kabine.«
Vitus und Arlette saßen eng umschlungen auf der schmalen Koje und blickten in die verlöschende Kerze, die auf einem hölzernen Tritt neben ihnen stand.
Beim Eintreten war er so kühn gewesen, seine Hand an ihrer Taille zu lassen, und zu seiner Überraschung schien ihr die Berührung nicht unangenehm zu sein. Kaum dass sie saßen, hatte sie sich abermals an ihn geschmiegt, obwohl es dafür gar keinen Grund mehr gab.
Oder gab es doch einen?
Ihm schwirrte der Kopf. Andere Männer, das wusste er, hätten jetzt eine geistreiche Plauderei begonnen, ihr Wissen versprüht und mit ihren Taten geglänzt, aber ihm war der Hals wie zugeschnürt.
»Die Kerze geht gleich aus«, sagte er schließlich und kam sich sehr töricht vor. »Ich weiß«, lächelte sie und blickte ihn an. Ihre graugrünen Augen wirkten im Zwielicht schwarz.
»Und es stört mich überhaupt nicht, Vitus von Campodios. Ich liebe dich nämlich.« Er glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Sie küsste ihn sacht. »Ich wusste es im ersten Augenblick, als ich dich aus dem Lazarett treten sah.«
»Aber, aber ... ich sah doch so unmöglich aus, mit meinem Gunner-Schal um den Kopf.« Sie lachte leise.
»Als ob es darauf ankäme.«
»Ich glaube, ich liebe dich auch.« Seltsam, wie leicht ihm diese bedeutenden Worte über die Lippen kamen. Es war ein Satz, den er Tirzah gegenüber nie ausgesprochen hatte. Aber Arlette war nicht Tirzah ... Er küsste sie sanft auf jene Stelle ihrer Wange, die Catfield getroffen hatte. Sie war leicht gerötet, aber schon morgen würde man nichts mehr davon sehen. Der Docht fiel vollends in das verbliebene Wachs, und das Licht verlöschte mit einem Zischen. »Geh jetzt nicht«, flüsterte sie.
Als er erwachte, war es bereits heller Tag. Ein einfacher Glockenschlag drang zu ihm in die Kabine. Es musste also bereits halb neun sein! Er fuhr hoch und blickte sich um. Wo war Arlette?
Sicher war sie nur kurz nach draußen gegangen, um irgendetwas zu erledigen. Rasch stand er auf und begann sich anzukleiden, während seine Augen im Raum umherwanderten. Als er das rote Damasttuch um seinen Körper wickelte, fiel sein Blick auf eine große Truhe, die er gestern Abend nicht bemerkt hatte. Die Truhe war geschlossen, und auf dem Deckel, neben den kunstvoll geschmiedeten Eisenbeschlägen, prangte etwas, das ihm sehr vertraut vorkam. Sein Wappen. Ungläubig trat er heran und betrachtete jede Einzelheit des Zeichens, verglich sie mit denen auf seinem Damasttuch und kam zu dem Schluss, dass völlige Übereinstimmung bestand. Das Wappen der Collincourts! Hier auf dieser Truhe, auf diesem Schiff!
Aber was hatte Arlette damit zu tun?
Zweifellos gehörte die Truhe ihr, und wenn das stimmte, war sie eine Verwandte von ihm. Eine Collincourt! Sich fertig ankleidend beschloss er, trotz seines schlechten Gewissens die Truhe zu öffnen. Arlette würde Verständnis dafür haben, wenn er ihr die Gründe erklärte.
Der Deckel hob sich knarrend. Vitus erblickte zunächst mehrere Kleider, dann eine schwere, eiserne Kassette, die wahrscheinlich Geld und Schmuck enthielt, dazu zwei, drei Hutschachteln und eine Reihe versiegelter Pergamentrollen. Ein großes rotes Siegel fiel ihm besonders ins Auge, denn der Wachsabdruck zeigte ebenfalls das Wappen der Collincourts. Magisch davon angezogen griff er danach.
»Was machst du da?« In der Tür stand Arlette und runzelte die Stirn.
»Ah, da bist du ja.« Vitus versuchte, sich seine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. Die Nacht mit ihr war zwar unbeschreiblich schön gewesen, und er hatte sich ihr so nah gefühlt wie nie zuvor einer Frau, aber jetzt war Tag, und er hatte die Hand in ihrer Truhe.
»Ich wollte nur einmal sehen, ob es deine Truhe ist.«
Er merkte selbst, wie lahm das klang. »Also, das Zeichen auf dem Deckel«, hob er abermals an, »ist identisch mit meinem Wappen!« Das war schon besser. Er strahlte sie an, während er die Arme öffnete und auf sie zuging.
»Lass das, bitte. Mir ist jetzt nicht danach.« Sie schob sich an ihm vorbei und beugte sich über die Truhe, kramte geraume Zeit darin und kam zu dem
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