Der Weg der gefallenen Sterne: Roman
es die Wachen ein.« Sie drückte Gaia einen Korb in die Hand.
Gaia zog sich die Kapuze über. »Gut so?«
Rita nickte und hielt ihr die Tür auf. Ein seltsam wehmütiges Lächeln umspielte ihre Lippen. »Viel Glück.«
»Danke, Rita.« Sie verabschiedete sich und trat nach draußen.
Sie ging die Gasse hinab und bog an der nächsten Ecke auf die Hauptstraße. Sie hielt sich auf der linken Seite, damit die Leute rechts an ihr vorbeigingen und niemand ihre Narbe bemerkte.
Sie war noch keine zwanzig Meter weit gekommen, als ihr ein Mann mit einem großen Teekessel auf der anderen Straßenseite auffiel. Er ging mit gleicher Geschwindigkeit, fast wie ein Schatten. Das konnte kein Zufall sein. Zuerst befürchtete sie, dass er zur Wache gehörte, doch er trug braune Hosen und ein hellblaues Hemd wie ein Arbeiter und machte einen entspannten Eindruck. Einen Straßenzug später nickte er ihr sogar unauffällig zu.
Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Er war ihr völlig unbekannt, ein schlanker Mann Anfang zwanzig, braune Haare unter einem grauen Hut. Gelegentlich wechselte er den Kessel von einer Hand in die andere, obwohl ihm dessen Größe keine Probleme zu machen schien. Im zunehmenden Gedränge verlor sie ihn kurz aus den Augen, doch als die Hauptstraße allmählich zum Südtor hin abfiel, überquerte er auf einmal die Straße und lief neben ihr her.
»Lauf einfach weiter«, sagte er.
»Wer bist du?«
Er legte den Kopf schief und grinste. »Rate mal.«
Sie blieb stehen und studierte ihn. Lange Strähnen hingen ihm in die Augen, die sie neugierig und spitzbübisch anschauten. Ihr Vater hatte auch immer so ausgesehen, wenn er ein Geheimnis vor ihr gehabt hatte.
Arthur?, dachte sie da, und es verschlug ihr die Sprache.
»Genau.« Er nickte. »Dein Bruder. Jetzt geh aber weiter!«
15 Einladung
»Nenn mich Pyrho.« Er fasste sie am Ellbogen und zog sie mit sich. »Mace hat mich geschickt, nach dir zu suchen. Ich habe diese Gasse stundenlang im Blick behalten. Er dachte, vielleicht brauchst du Hilfe, um aus der Enklave wieder rauszukommen.«
»Da hatte er recht. Weißt du, wo Leon ist?«
»Mehr oder weniger. Geh weiter.«
»Wo steckt er?«, hakte sie nach. »Ist er noch hier?«
»Jap.«
»Geht es ihm gut? Kann ich zu ihm?«
»Erst mal möchte ich jetzt nicht mit dir verhaftet werden«, sagte Pyrho. »Wie wär’s, wenn wir zunächst sehen, dass wir hier rauskommen, und das Diskutieren auf später verschieben?«
»Was willst du mit dem Teekessel?«
»Der ist nur ein Vorwand. Es gibt jemanden vor der Mauer, der solche Kessel repariert. Kommst du jetzt bitte?«
Er ging wieder schneller, und sie musste sich beeilen, mit ihm Schritt zu halten. Die Mauer kam jetzt in Sicht. Gerade traten mehrere Ärzte aus dem Schatten des Tors, gefolgt von Helfern, die ihre Ausrüstung trugen. Die DNS-Registrierung musste in Gaias Abwesenheit fortgesetzt worden sein – was entweder hieß, dass die meisten ihrer Leute nun erfasst waren oder dass die Hälfte der erfassten Daten wertlos war.
»Immer schön weitergehen«, sagte Pyrho. »Spiel einfach mit.«
Eine der Wachen vor dem Tor hob die Hand. »Hey, Pyrho, alles klar? Gibt’s wieder ein Feuerwerk zur Party heute Abend?«
»Diesmal eher nicht«, antwortete er. »Was macht Lou? Er ist doch hoffentlich nicht mehr sauer wegen seiner Dame?«
»Nein, ist doch nur Schach. Spielst du nächste Woche beim Turnier mit?« Der Wachmann warf einen flüchtigen Blick auf den Kessel.
»Na klar doch. Wir sehen uns dort.«
»Wen hast du denn da?«, fragte der Wachmann und trat auf sie zu.
Instinktiv drehte Gaia den Kopf, damit er ihre Narbe nicht sah.
Pyrho blieb ganz gelassen. »Zeig ihm mal dein Gesicht, Stella. Darum geht es doch, oder?«
Mit klopfendem Herzen schaute Gaia den Soldaten an.
»Bist du nicht diese Hebamme?«, fragte er überrascht.
Pyrho lachte. »Hervorragend. Das ist für ihren Psychologiekurs – sie soll herausfinden, wie Leute auf Entstellungen reagieren. Ist bloß Make-up.«
Die Wache runzelte die Stirn und trat näher. »Ich finde, ihr habt es etwas übertrieben. Sieht ganz schön hässlich aus.«
»Soll es ja auch sein. Hat einen Haufen Arbeit gemacht. Los jetzt, Stella – wir müssen weiter.«
Gaia erinnerte sich an Ritas Rat und hob ihr Kinn, um etwas hochnäsig zu wirken. »Ich bin froh, der Enklave zu dienen«, sagte sie.
»So wie ich«, erwiderte der Wachmann. Er tippte sich an den Hut und ließ sie vorbei.
Gaia und ihr Bruder
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