Der Weg der Helden
furchtbares Gemetzel und Zerstörungen geben.«
» Was können wir tun?«
» Was könnt ihr anderes tun, als eurer Natur zu folgen?«, erklärte sie. » Ihr seid, was ihr seid.«
» Ist dein Hass auf die Avatar so groß?«, erkundigte er sich. Er hatte die Verachtung in ihrer Stimme gehört.
Sie lächelte sehnsüchtig. » Du missverstehst mich, Questor Ro. Ich habe nicht von den Avatar gesprochen. Ich sprach von den Menschen allgemein. Das ist mir jetzt klar, und mit jedem Tag wird es klarer. Wir alle tun, wozu wir geboren sind. Meine Tante Lalia hat eine Katze. Sie wird sehr gut gefüttert und braucht nichts. Trotzdem schleicht sie, mit vollem Bauch, auf die Wiese und tötet einen Vogel. Sie frisst den Vogel nicht. Warum also tötet sie ihn? Genauso gut könnte man fragen, warum eine Blume wächst oder warum es regnet. Die Katze tötet, weil sie zum Töten geschaffen ist. Das ist der Zweck ihres Daseins. Sie hat Zähne und Krallen und ist sehr schnell. Sie ist ein Jäger. Wenn sie also nicht jagen würde, welchem Zweck würde sie dann dienen?« Sofarita schwieg einen Moment. Dann sprach sie weiter. » Noch vor ein paar Wochen war ich eine Witwe, die in einem kleinen Dorf lebte. Ich kannte meine Rolle, und ich spielte sie gut. Ich war sittsam in Gesellschaft von Männern und arbeitete mit den anderen Frauen auf den Feldern. Als meine Trauerzeit vorbei war, hätte ich einen neuen Ehemann akzeptiert, den mein Vater für mich ausgewählt hätte, und hätte ihm Kinder geschenkt. Aber ich bin nicht länger dieses Dorfmädchen. Ich sehe die Welt mit anderen Augen, Augen, die weit mehr sehen als früher. Und ich kann auf dem Wind der Zeit fliegen. Heute bin ich weit gereist; ich sah den Menschen. Ich habe gesehen, wie er aus den Tiefen des Dschungels gekrochen ist, den Körper noch mit dichtem Fell bedeckt. Ich sah, wie sich sein Verstand entwickelte und seine Fähigkeiten zunahmen. Diese Fähigkeiten waren immer mit dem Tod verknüpft. Kennst du die größte Entdeckung, welche die Menschheit vor sechshunderttausend Jahren gemacht hat?« Ro schüttelte den Kopf. Sie lachte, aber ihr Lachen klang nicht amüsiert. » Er lernte, dass ein Speer etwa ein Drittel von der Spitze entfernt am schwersten sein muss. Das sorgt für einen guten Flug und für die beste Wirkung, wenn man töten will. Er verfügte über eine Sprache, die nur auf primitiven Lauten und Gesten beruhte, aber er lernte einen Wurfspeer zu machen. Ich habe viele Dinge gesehen, Questor Ro, Dinge, die selbst das stärkste Herz brechen würden. Der Mensch ist wie die Katze. Ganz gleich, wie viel Wohlstand er besitzt, ganz gleich, wie zufrieden sein Leben ist, ganz gleich, wie gelehrt er ist, er sehnt sich danach zu kämpfen, zu siegen und einen angeblichen Feind zu töten.«
» Nicht alle Menschen verhalten sich so«, sagte Ro.
» Das stimmt«, räumte sie ein. » Und was ist ihr Schicksal? Ich habe auch sie beobachtet, die Poeten, die geistigen Führer, die Träumer von Harmonie. Kannst du mehr als eine Handvoll nennen, die nicht ermordet wurden?«
» Das kann ich nicht. Was du sagst, ist die Wahrheit, aber welche andere Möglichkeit haben wir jetzt? Die Almecs sind böse und wollen uns vernichten. Was können wir anderes tun, als uns ihnen zu widersetzen?«
» Du kannst nichts anderes tun. Denn du bist ein Mensch. Aber bitte sieh dich vor, wenn du von ihren bösen Taten sprichst. Denn sie sind nur ein verzerrtes Spiegelbild der Avatar. Sie leben vom Blut anderer, töten Tausende in rituellen Opfern, reißen ihnen die Herzen heraus. Ihr Avatar seid nur geringfügig anders, weil eure Kristalle euren Opfern das Leben entziehen, ohne dass Blut dabei fließt. Wenn die Almecs böse sind, dann seid ihr es auch. Und sie sind in der Tat sehr böse, Questor Ro.«
Ro ließ sich auf seinem Stuhl zurücksinken und schloss die Augen. Er war jetzt vollkommen erschöpft, und die Wahrheit ihrer Worte hing an ihm wie das Gewicht des Todes. » Warum konnte ich das nicht vorher schon sehen?«, fragte er sie. » Warum ist das jetzt erst so klar für mich?«
» Weil ich dich zuvor noch nicht berührt hatte. Diese Macht, über die ich verfüge, ist neu für mich, und ich habe noch nicht gelernt, sie zu kontrollieren. Ich habe unbeabsichtigt ein Fenster in deiner Seele geöffnet, das sehr lange verschlossen gewesen ist. Ich könnte es wieder für dich schließen, wenn du das verlangst.«
Ro schüttelte den Kopf. » Ich will es nicht wieder aufgeben. Ich fühle mich jetzt ganz.
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