Der Weg der Könige - Sanderson, B: Weg der Könige - The Way of Kings - The Stormlight Archive, Book 1
die Parschendi zulaufen wollten. Solange er das aber tat, gab es keinen Grund, ihn zu exekutieren. Die Armeeführer schienen sogar sehr zögerlich zu sein, wenn es darum ging, Brückenmänner zu bestrafen. Während seiner Zeit als Brückenmann hatte einer seiner Gefährten einen Mord begangen, und der Narr war dafür während eines Großsturms angebunden worden. Aber abgesehen davon hatte Kaladin nur mitbekommen, wie ein paar Männern wegen einiger Schlägereien der Lohn gekürzt worden war. Und hin und wieder hatte es mal eine Auspeitschung gegeben, wenn ein Brückenmann zu Anfang des Laufes nicht schnell genug gewesen war.
Das waren aber unbedeutende Strafen. Die Anführer dieser Armee wussten, dass das Leben der Brückenmänner fast ohne jede Hoffnung war. Wenn sie noch mehr unterdrückt werden würden, wäre es möglich, dass ihnen bald alles gleich war und sie sich gern töten ließen.
Leider bedeutete dies auch, dass Kaladin seine eigene Mannschaft ebenfalls nicht bestrafen konnte, selbst wenn er die offizielle Möglichkeit dazu hätte. Er musste sie also auf andere Weise anfeuern. Er überquerte den Holzplatz, auf dem die Zimmerleute neue Brücken bauten. Nach einigem Suchen fand er schließlich das, auf was er aus war – eine dicke Planke, die nur darauf wartete, an eine neue tragbare Brücke genagelt zu werden. An der einen Seite war bereits ein Griff für den Brückenmann angebracht.
»Darf ich mir dies hier ausleihen?«, fragte Kaladin einen vorbeigehenden Tischler.
Der Mann hob die Hand und kratzte sich am Kopf, der vom Sägemehl bestäubt war. »Ausleihen?«
»Es wird hier auf dem Holzplatz bleiben«, erklärte Kaladin, hob das Brett auf und legte es sich über die Schulter. Es war schwerer als erwartet, und er war dankbar für das Schulterpolster in seiner Lederweste.
»Wir brauchen es irgendwann …«, sagte der Tischler, wandte aber nichts ein, als Kaladin mit der Planke fortging.
Er suchte nach einem ebenen Stück Felsboden unmittelbar vor den Baracken und ging mit der Planke über der Schulter vom einen Ende des Holzplatzes zum anderen, während er die Wärme der Morgensonne auf der Haut spürte. Er ging vor und zurück, vor und zurück. Er ging, er trabte, er rannte. Er übte mit der Planke auf der Schulter und trug sie irgendwann mit ausgestreckten Armen über dem Kopf.
Er arbeitete sich geradezu daran ab. Mehrfach fühlte er sich kurz vor dem Zusammenbruch, aber jedes Mal fand er irgendwo in sich doch noch eine Kraftreserve. Also machte er
weiter, biss die Zähne gegen Schmerz und Ermüdung zusammen und zählte seine Schritte, um sich abzulenken. Der Zimmermannslehrling, mit dem er gesprochen hatte, brachte einen Aufseher herbei. Dieser kratzte sich unter seiner Kappe am Kopf und beobachtete Kaladin gründlich. Schließlich zuckte er die Schultern, und die beiden gingen wieder an ihre Arbeit.
Bald hatte er eine kleine Zuschauergruppe angezogen: Tischler vom Holzplatz, einige Soldaten und etliche Brückenmänner. Einige aus den anderen Mannschaften verspotteten ihn zwar, aber die Männer von Brücke Vier hielten sich zurück. Viele beachteten ihn gar nicht. Andere – solche wie der grauhaarige Teft, der jugendliche Dunni und noch einige weitere – standen in einer Reihe da und sahen ihm zu, als könnten sie ihren Augen nicht trauen.
Dieses verblüffte und auch feindselige Starren hielt Kaladin in Bewegung. Überdies arbeitete er so seine Enttäuschung und seine brodelnde, kochende Wut ab. Die Wut darüber, dass er Tien im Stich gelassen hatte. Die Wut auf den Allmächtigen, weil er eine Welt erschaffen hatte, in der einige in größter Üppigkeit speisten, während andere beim Brückentragen zu Grunde gingen.
Es tat ihm überraschend gut, sich auf diese Weise zu erschöpfen. Er fühlte sich so wie in den ersten Monaten nach Tiens Tod, als er mit dem Speer trainiert hatte, um zu vergessen. Als die Mittagsglocken läuteten und die Soldaten zum Essen riefen, hörte Kaladin endlich auf und legte die große Planke auf den Boden. Er rollte die Schulter. Stundenlang war er gerannt. Woher hatte er nur diese Kraft?
Er lief zu den Tischlern hinüber, wobei sein Schweiß auf die Steine tropfte, und trank ausgiebig aus ihrem Wasserfass. Für gewöhnlich verscheuchten die Tischler jeden Brückenmann, der das versuchte, aber nun sagte niemand ein Wort, als Kaladin zwei große Schöpfkellen mit metallisch schmeckendem
Regenwasser hinunterschüttete. Er warf die Kelle beiseite, nickte zwei
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