Der Weg der Könige - Sanderson, B: Weg der Könige - The Way of Kings - The Stormlight Archive, Book 1
die verschiedenen religiösen Vereinigungen, denen die anständigen Voriner beitraten.
Unanständige spitze Bemerkungen würden Schallan hier nicht weiterhelfen. Sie musste anständig sein. Das Mündel einer Frau von großer Berühmtheit zu werden, war der beste Weg, Unterricht in den weiblichen Künsten zu erhalten: Musik, Malerei, Schreiben, Logik und Wissenschaft. Es war in etwa so wie bei einem jungen Mann, der in der Ehrengarde eines Hellherrn ausgebildet wurde, den er verehrte.
Vor einiger Zeit hatte Schallan an Jasnah geschrieben und sie verzweifelt gebeten, als Mündel bei ihr angenommen zu werden. Eigentlich hatte sie gar nicht erwartet, eine zustimmende Antwort zu erhalten. Als dann aber doch eine Einwilligung gekommen war – in einem Brief, der Schallan befahl, sie in zwei Wochen in Dumadari aufzusuchen –, da war Schallan schockiert gewesen. Seitdem jagte sie der Frau nach.
Jasnah war eine Häretikerin. Würde sie verlangen, dass Schallan ihrem Glauben abschwor? Sie bezweifelte, dass sie dazu imstande war. Die Vorin-Lehren über Ruhm und Berufung hatten ihre einzige Zuflucht in den schweren Tagen dargestellt, als es mit ihrem Vater so schlimm gewesen war.
Sie bogen in eine schmalere Halle ein und betraten Gänge, die immer weiter von der Haupthalle entfernt lagen. Schließlich hielt der Diener bei einer Ecke an und bedeutete Schallan, sie möge allein weitergehen. Aus dem Korridor zur Rechten drangen Stimmen.
Schallan zögerte. Manchmal fragte sie sich, wie es zu alldem überhaupt hatte kommen können. Sie war die Stille, die Furchtsame, das jüngste von fünf Kindern und dabei das einzige Mädchen. Ihr ganzes Leben hindurch hatte sie Schutz und Geborgenheit erfahren. Und nun lasteten die Hoffnungen ihres ganzen Hauses auf ihren Schultern.
Ihr Vater war tot. Und es war lebenswichtig, dass dies ein Geheimnis blieb.
Sie wollte sich nicht an jenen Tag erinnern – sie hatte ihn aus ihrem Gedächtnis gestrichen und sich gezwungen, an andere Dinge zu denken. Doch die Auswirkungen seines Todes waren unübersehbar. Er hatte unzählige Versprechungen gemacht – viele bezogen sich auf Geschäftsvereinbarungen, andere auf Bestechungsgelder, von denen einige die Gestalt von Handelsverträgen hatten. Das Haus Davar schuldete vielen Leuten eine Menge Geld, und ohne ihren Vater, der sie immer wieder beschwichtigt hatte, würden die Gläubiger ihre Forderungen bald präsentieren.
Sie konnten sich an niemanden wenden. Vor allem wegen ihres Vaters wurde Schallans Familie sogar bei ihren Verbündeten verachtet. Der Großprinz Valam – der Hellherr, dem ihre Familie die Lehenstreue geschworen hatte – war krank und konnte ihnen nicht mehr den Schutz bieten, den sie früher einmal genossen hatten. Wenn bekanntwurde, dass ihr Vater tot und ihre Familie bankrott war, wäre dies das Ende des Hauses Davar. Sie würden von einem anderen Haus unterjocht und verschlungen werden.
Als Strafe würde man sie bis aufs Blut schinden – und vielleicht würden sie sogar von verärgerten Gläubigern umgebracht werden. Es war Schallans Aufgabe, das zu verhindern, und der erste Schritt dazu war nun also Jasnah Kholin.
Schallan atmete tief durch und bog dann um die Ecke.
4
DIE ZERBROCHENE. EBENE
»Ich liege im Sterben, nicht wahr? Heiler, warum nimmst du mein Blut? Wer ist das da neben dir mit dem zerfurchten Kopf? Ich sehe eine ferne Sonne, dunkel und kalt; sie leuchtet in einem schwarzen Himmel.«
Gesammelt am dritten Jesnan 1171, elf Sekunden vor dem Tod. Person war ein Reschi-Chull-Dresseur. Diese Aussage ist von besonderer Bedeutung.
W arum weinst du nicht?«, fragte das Windsprengsel.
Kaladin lehnte mit dem Rücken in einer Ecke des Käfigs und blickte nach unten. Die Bodenplanken vor ihm waren gesplittert, als hätte sie jemand mit den bloßen Fingernägeln aufgerissen. Der gesplitterte Bereich war dort mit dunklen Flecken übersät, wo das trockene graue Holz das Blut aufgesaugt hatte. Es war ein sinnloser, verrückter Fluchtversuch gewesen.
Der Wagen rollte weiter. Jeden Tag war es dasselbe. Kaladin erwachte in Schmerzen und mit wunden Gliedern aus einem unruhigen Schlaf ohne Matratze oder Laken. Dann wurden die Sklaven aus jedem Wagen nacheinander hinausgelassen. Mit steifen Beinen humpelten sie herum und durften
sich erleichtern. Dann wurden sie wieder eingesperrt und erhielten ihren Morgenbrei, und die Wagen fuhren weiter, bis es den Nachmittagsbrei gab. Dann rollten sie wieder los. Schließlich kamen der
Weitere Kostenlose Bücher