Der Weg des Unsterblichen
Und doch hatte ich schon seit einer Weile ein sehr ungutes Gefühl in der Magengegend. Es fühlte sich merkwürdigerweise so an, als wäre dieganze Welt angespannt und würde auf etwas warten, dass direkt auf uns zurollte. Aber was?
Das Kreischen meiner kleinen Schwester unterbrach meine düsteren Gedanken. “Huhu, hallo Lian!”, rief sie fröhlich.
Ich drehte meinen Kopf zu der kleinen, braunen Holztür, die in die Hecke unseres rechten Nachbarn eingebaut war und lächelte dem Jungen entgegen, der dort hindurch in unseren Garten kam. “Hey Malu, hallo Noé.”
“Lian, schön dich zu sehen.” Ich zerkrümelte den letzten Cupcake und ließ ihn auf den Boden vor meinen Füßen fallen. Bruno stürzte sich sofort darauf und saugte die Krümel weg, als wäre er ein übergroßer, plüschiger Staubsauger. Und so waren auch die letzten Beweise innerhalb weniger Sekunden verschwunden.
Lian nickte in Brunos Richtung und grinste. “Von Monja, nehme ich an?” Als ich entschuldigend lächelte, lachte er. “Uns hat sie mal Muffins zu Weihnachten gebacken. Wir haben den ganzen Abend romantisch beisammen an der Kloschüssel verbracht.” Er kraulte Brunohinterm Ohr. “Dein Magen muss ein biologisches Wunder sein, mein Junge.”
Bruno wedelte mit dem Schwanz, als würde er die gesagten Worte als Kompliment verstehen.
Ich wischte die krümeligen Hände an meinen Shorts ab und setzte mich dann halb auf den Tisch. “Du warst die letzten Tage nicht in der Schule, ist irgendetwas passiert?”
Das fragte ich nicht nur so nebenbei, denn wenn Lian in der Schule fehlte, hatte es meistens etwas zu bedeuten. Sein Vater war der Polizeichef unserer Stadt und ich wusste, dass er seinen Sohn gern mit zu seinen Einsätzen nahm, seit Lian sechszehn geworden war. Und ich wusste, dass der Chef in engem Kontakt mit den Engeln stand.
Lian warf einen flüchtigen Blick zu der spielenden Malu, bevor er mich anlächelte. “Nein, ich war zur Abwechslung einfach krank. Etwas Ansteckendes, deswegen hat meine Mutter mir verboten, in die Schule zu gehen. Ich bin auch morgen wieder zurück, aber eigentlich bin ich aus einem anderen Grund hier.” Er griff in seine hintere Hosentasche und hielt mir zweiSekunden später ein hübsch verpacktes Geschenk unter die Nase. “Alles Gute nachträglich, auch wenn ich drei Tage zu spät komme. Oh, meine Mutter hat es eingepackt, ich krieg sowas einfach nicht hin. Entschuldige.”
Ich erwiderte sein schüchternes Lächeln, auch wenn mir nicht unbedingt wohl dabei war, seit ich wusste, dass er in mich verliebt war. Er hatte es vor etwa einem Jahr – unter strengsten Schweigegelübten, – Monja erzählt, und eine Stunde später hatte ich es natürlich auch gewusst. Es war nicht so, dass Lian schlecht aussah. Er war gut gebaut, etwas muskulös, hatte leicht asiatische Züge, aber helle Augen und sein Lächeln war, so schüchtern es auch war, ebenso charmant. Aber ich hatte einfach kein Interesse an ihm, deswegen versuchte ich auch, vorsichtig zu sein und ihm keine falschen Hoffnungen zu machen. Und das war – weiß Gott – nicht einfach, denn wenn man Moni glauben konnte, interpretierte er verdammt viel in mein Verhalten hinein.
“Danke, Lian, das wäre doch nicht nötig gewesen.” Etwas peinlich berührt schaute ich aufmeine Hände hinab, während ich vorsichtig die Schleife öffnete und das kleine Buch aus dem Geschenkpapier zog. “Aufstieg der Engel” lautete der goldene Titel auf dem schwarzen Einband.
“Also, wenn es dir nicht gefällt, dann kann ich dir auch die Quittung geben und du kannst es umtauschen…Ich dachte nur, naja, du interessierst dich doch immer so für historische Bücher.”
Ich lächelte ihn an. “Danke, Lian, ich werde es ganz sicher nicht umtauschen, du hast meinen Geschmack genau getroffen.”
“Glück gehabt!” Er fasste sich ans Herz, als wäre er wahnsinnig erleichtert, und grinste.
Da konnte ich schon die Stimme meiner Mutter hören: “Noélia, Malu, Essen ist fertig!”
Malu quietschte und wollte schon an mir vorbeistürmen, aber ich packte sie am nackten Arm und hielt sie auf. “Sagst du Mama, dass ich in ein paar Minuten nachkomme?”
Meine Schwester sah zwischen mir und Lian hin und her, die Augenbrauen zusammengezogen. “Beeil dich, ich muss immerwegen dir aufs Essen warten!” Sie riss sich los und rannte, dicht gefolgt von Nachbars Spitz, nach drinnen. Ich konnte ihre nackten Füße und seine kleinen Pfoten auf den Fliesen im Flur hören.
“Du
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