Der Weg in die Dunkelheit 1: Die Erwählte (German Edition)
gebotenen Gedenktagen war das eine der Grundlagen des Glaubens meiner Mutter. Heute Morgen war ich erschöpft und spät dran gewesen, also hatte ich mir nicht die Mühe gemacht– vielleicht erst zum dritten Mal in meinem gesamten Leben. Das Bild war heute Morgen aufgenommen worden, nachdem Colin mich abgeholt hatte.
Colin fuhr mit quietschenden Reifen an den Straßenrand, was viel ärgerliches Hupen und Stinkefinger aus den anderen Autos nach sich zog.
» Was war auf den anderen?« Er begann, das Nachrichtenarchiv durchzusehen.
Eine weitere Nachricht kam an, und irgendwie wusste ich schon, bevor er sie öffnete, was dieses Bild zeigen würde. Luc, wie er mich im gelblichen Schein der Lampe vor der Haustür küsste.
Colin biss die Zähne zusammen, und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. » Kaffeetrinken, hm?« Die Schärfe seines Tonfalls tat weh.
» Es ist nicht so, wie du denkst«, sagte ich und wusste, wie vollkommen hohl das klang. » Wirklich nicht. Er kennt Evangeline.«
Seine Stimme war säuerlich, als er das Bild betrachtete: » Ich schätze, du hast niemanden bemerkt?«
Ich schüttelte den Kopf. » Die Nummern sind alle geheim«, bemerkte ich in dem Versuch, das Thema zu wechseln. » Und das erste Bild, das von Lena? Das haben sie gerade eben aufgenommen. Sie wollte mir eine Cola holen, als wir aufgelegt haben.«
Das Telefon klingelte. Colin drückte auf den Knopf, der den Freisprechmodus auslöste, und bedeutete mir, etwas zu sagen.
» Hallo?«
» Hallo, Mo.« Eine Männerstimme, aber keine, die ich kannte. Ein Blick zu Colin zeigte mir, dass auch er sie nicht erkannte.
» Wer ist da?«
» Ein Freund. Mit einem guten Rat.«
Ich schluckte. » Ja?«
» Siehst du, wie leicht es ist, Leute aus einer Menschenmenge herauszupicken? Achte darauf, dass du es richtig machst, wenn du an der Reihe bist, ja?«
» Was meinen Sie…«
Der Anruf endete, und Colin fluchte. Er schlug mit der Faust aufs Armaturenbrett und steuerte den Truck zurück in den Verkehr. Er starrte eine Weile geradeaus und hielt das Steuerrad fest umklammert; der Puls an seiner Kehle war sichtbar. Er war so anders als der fröhliche, lachende junge Mann, der heute Morgen in meinem Wohnzimmer gestanden hatte, dass ich ihn kaum wiedererkannte.
Er fuhr quer durch die Stadt, weg von der Schule, und warf häufiger als sonst einen Blick in den Rückspiegel.
Ich wartete, bis ich sprechen konnte, ohne dass meine Stimme zitterte. » Wovon redet er?«
» Die Identifizierung. Kowalski kommt heute Nachmittag in der Schule vorbei. Sie haben Leute verhaftet, und du sollst aufs Polizeirevier kommen.«
» Wer war das also? Onkel Billys Sekretär?«
» Nicht Billy. Ein höheres Tier.«
Ich zwang mich, die Frage zu stellen; die Worte hörten sich kleinlaut an. » In der Mafia?«
Colin sagte nichts, aber sein Gesicht hatte einen harten, grimmigen Ausdruck angenommen.
» Warum macht die Mafia Fotos von meinen Freunden? Und von meinem Zimmer?«
Er warf erneut einen Blick in den Spiegel, bog rechts ab, sah wieder hin. » Um zu zeigen, wie verwundbar du bist.«
» Aber… ich habe dich.«
Ein Muskel an seinem Kiefer zuckte. » Nicht immer. Und ich behalte auch deine Freunde und deine Mutter nicht im Auge. Mein Job ist es, für deine Sicherheit zu sorgen, Mo. Nicht für die irgendeines anderen.«
» Was ist mit meiner Mutter? Ist sie…«
» Ihr geht es gut. Billy lässt sie schon seit einer Weile von ein paar Leuten im Auge behalten. Sie sind bloß weniger sichtbar. Und um ehrlich zu sein, macht deine Mutter wesentlich weniger Schwierigkeiten.«
Mein Magen krampfte sich zusammen. Auf wen konnten sie es noch abgesehen haben? Ohne Verity war ich in der Schule eine Unberührbare. Die Einzige, die mir in letzter Zeit auch nur gesagt hatte, wie spät es war, war…
» Gib mir mein Handy zurück.«
» Was?«
» Das Handy, Colin. Sofort.«
Er reichte es mir stumm und beobachtete mich aus dem Augenwinkel, während wir durch die Stadt rasten.
Ich wählte hektisch und zählte die Klingeltöne, bis Lena abnahm. » Lena? Ist alles in Ordnung?«
» Ja, aber der Gottesdienst beginnt in ein paar Minuten. Wenn wir ihn schwänzen wollen, dann musst du dich jetzt entscheiden.«
Ich wollte sie warnen. Ich wollte ihr raten, wegzulaufen, ins Büro zu gehen oder sich wenigstens in der Nähe einer Gruppe aufzuhalten, am besten weit von Fenstern entfernt. Der Gedanke, dass jemand Lena meinetwegen zur Zielscheibe machen könnte, ließ mir übel werden,
Weitere Kostenlose Bücher