Der Weg in die Dunkelheit 3: Die Schöpferin (German Edition)
und wagen einen Neuanfang. Es kommt nur darauf an, die Grenzen des anderen zu kennen, zu wissen, was man mit Fug und Recht von ihm erwarten kann, und auch zu wissen, was er mit Fug und Recht von einem selbst erwarten kann.« Sie sprach mit absoluter Autorität, aus einem Wissen heraus, das einem mühsam erworbenen Erfahrungsschatz entsprang.
Ich nahm einen Bissen von dem Bratapfel, schob den Rest dann aber von mir. Ich hatte einfach keinen Appetit. » So habt ihr das geschafft, du und Dad?«
» Tag für Tag«, sagte sie. » Geh ins Bett. Morgen früh sieht alles schon ganz anders aus.«
Ich stieg die Treppe hinauf, aber ich ging nicht ins Bett. Ich setzte mich ans Fenster, sah auf die Straße hinaus und hielt Ausschau nach irgendeinem Anzeichen dafür, dass Colin zurückkommen würde. Die Kälte drang durchs Glas und durch meinen Pullover und sank mir in die Knochen. » Einsam«, hatte Lena gesagt, als ich eingeräumt hatte, dass es niemanden in meinem Leben gab, der die ganze Wahrheit über mich kannte. Jetzt kannte Colin sie, und ich war sogar noch einsamer als zuvor.
Ich griff nach meinem Handy und schrieb Lena eine SMS . Sie würde wissen, was zu tun war. Das tat sie immer.
Kannst du reden?
Während ich auf ihre Antwort wartete, regte sich die Magie und versuchte, mich zu trösten. Aber dieses Problem war nicht magisch. Ich hatte es mir selbst eingebrockt und würde es nun auch allein lösen müssen.
Das Handy piepste. Morgen?
Okay.
Also keine Lena. Ich fischte Colins Akte aus meinem Schreibtisch und las sie noch einmal, all die entsetzlichen Einzelheiten über seine Vergangenheit, die Tragödie, die über ihn und Tess hereingebrochen war. Sie hatte den Mann geprägt, der er heute war, wachsam, hart und ehrenhaft, sanft, tapfer und wild entschlossen. Ich hatte ihm so schrecklich wehgetan.
Und doch hätte ich genau dasselbe noch einmal getan, um ihn zu beschützen.
Kapitel 18
Ich hatte nie zuvor an Colin gezweifelt. Es sorgte dafür, dass ich mich fühlte, als hätte ich eine Müslischale voller Würmer verschluckt, als ich am nächsten Morgen vorn am Fenster auf ihn wartete. Als er auftauchte, hätte ich mich beinahe vor schierer Erleichterung übergeben.
Stattdessen ging ich auf zitternden Beinen durch den Vorgarten und stieg in den Truck.
» Hallo«, sagte ich mit kaum hörbarer Stimme.
Er nahm mit einem ruckartigen Nicken davon Kenntnis und fuhr los, ohne abzuwarten, dass ich mich anschnallte.
» Reden wir darüber?«
» Nein.« Seine Antwort war nicht hitzig, sondern emotionslos. Sein Gesichtsausdruck war ebenso gleichgültig. In Chemie hatten wir über den absoluten Nullpunkt gesprochen, die Temperatur, bei der alle Bewegungen zum Erliegen kommen, sogar auf molekularer Ebene. Dr. Sanderson achtete immer darauf, uns daran zu erinnern, dass es nur eine hypothetische Vorstellung war, eine Theorie.
Jetzt hatte ich den Beweis, dass er existierte. Meine Chemielehrerin würde begeistert sein.
» Das war’s dann also? Wir sind fertig?«
Er antwortete nicht, bis wir vor der Schule anhielten. » Ich hole dich zur üblichen Zeit ab.«
» In Ordnung.« Ich wartete, ob er noch etwas sagen würde, aber er hielt die Augen aufs Steuerrad gerichtet und den Mund fest geschlossen. » Bis dann.«
Er fuhr weg, sobald ich die Türschwelle überschritten hatte. Er tat seine Pflicht, aber nicht mehr.
Lena stand neben meinem Spind, hatte die Arme um sich geschlungen und wiegte sich hin und her. Sie sah so elend aus, wie ich mich fühlte. Als sie mich bemerkte, ließ sie die Arme sinken und holte tief Luft.
» Du siehst entsetzlich aus«, sagte sie.
» Danke. Du auch. Wollen wir irgendwo hingehen und reden?«
» Ja. In die Kapelle?«, schlug sie vor. » Da stört uns niemand.«
» Klar.« Wir schlüpften durch eine Seitentür und gingen über den Schulhof zu dem winzigen Steingebäude. Der Altar war mit purpurnen Tüchern geschmückt, und der übliche Blumenschmuck war einem kargen Arrangement aus Weidenzweigen und Forsythien mit fest geschlossenen Knospen gewichen. Ein paar Kerzen brannten, um die Düsternis zu verscheuchen. Ich ließ mich auf eine der hintersten Kirchenbänke sinken. Lena entschied sich für die gegenüber von mir und stützte die Hände auf die Bank vor sich.
» Als meine Mutter fünfzehn war und noch in Texas gelebt hat, war sie mit einem Typen aus dem Nachbarort zusammen. Sie wusste, dass er ein schlimmer Finger war, aber das war ihr egal. Als sie schwanger wurde, beschuldigte er
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