Der Weg in die Dunkelheit 3: Die Schöpferin (German Edition)
sie, ihn betrogen zu haben, und verprügelte sie dann, bis sie das Baby verlor. Sie blieb trotzdem mit ihm zusammen. Als sie siebzehn war, haben sie geheiratet. Er hat sie weiter geschlagen. Sie wurde wieder schwanger. Er verprügelte sie noch mehr. Sie floh. Als er sie fand, versuchte sie, sich von ihm scheiden zu lassen, aber das Gericht entschied, dass sie ein gemeinsames Sorgerecht haben würden. Mein großer Bruder hätte genauso viel Zeit bei ihm wie bei ihr verbringen müssen.« Sie machte eine Pause, um Atem zu holen, löste bewusst ihren Griff um die Banklehne und fuhr fort: » Sie floh wieder, aber diesmal halfen ihr Leute aus einem Frauenhaus für Opfer häuslicher Gewalt. Sie war in Florida, als sie hörte, dass er bei einer Kneipenschlägerei ums Leben gekommen war. Sie änderte ihren Namen und den meines Bruders. Studierte nachts und am Wochenende. Machte ihren Abschluss in Sozialarbeit. Lernte meinen Dad kennen. Bekam mich. Studierte Jura.«
Sie breitete ihre Lebensgeschichte wie ein Solitärspiel aus, sauber, ordentlich und emotionslos, eine Schicht über der anderen.
» Das tut mir leid«, sagte ich. » Das ist… entsetzlich.« Mehr als entsetzlich.
Lena wischte die Worte beiseite und holte tief Luft. » Jetzt ist sie Professorin an der Northwestern University, auf Familienrecht spezialisiert– besonders auf Sorgerechtsfälle, in denen es um Frauen und Kinder geht, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind.«
» Damit sie nicht durchmachen müssen, was sie durchgemacht hat.«
» Ja.« Lena saß lange mit hängenden Schultern und im Schoß gefalteten Händen da. » Du musst mir versprechen, niemandem davon zu erzählen.«
» Versprochen.«
» Der Mann bei der Suppenküche…«, sagte sie. » Ich kenne ihn nicht. Aber ich weiß, was er getan hat.«
Kurz trat Raymond Gaskills Karteifoto vor mein inneres Auge, und alles setzte sich in meinem Kopf zusammen. » Er hat gesagt, du wüsstest, wo seine Familie ist.«
» Vielleicht wusste ich es irgendwann. Aber wenn sie erst seit kurzem vermisst werden, wechseln sie wahrscheinlich alle paar Tage ihren Aufenthaltsort. Seine Tochter hieß vielleicht Emily, als er ihr noch wehgetan hat, aber ich garantiere dir, dass sie mittlerweile anders heißt. Und er wird sie nie wieder anrühren.«
» Hat er das Sorgerecht verloren?«
Sie sprach mit klarer Betonung, ohne jedes Zittern in der Stimme, trotz all der schrecklichen Dinge, von denen sie berichtet hatte. » Ihm ist das Sorgerecht zugesprochen worden, trotz überwältigender Indizien, dass er gewalttätig ist. Denn das sind die Familien, denen wir helfen– die, bei denen das System versagt. Wir verstecken sie. Wir verschaffen ihnen neue Identitäten. Wir helfen ihnen, weit weg von hier einen Neuanfang zu machen, damit sie eine Chance auf ein richtiges Leben haben.«
Ich starrte sie an. Lena Santos, Redakteurin der Schülerzeitung. Begabte Schülerin. Linke Stürmerin in der Fußballmannschaft. » Das ist wie ein Zeugenschutzprogramm für Opfer häuslicher Gewalt.«
» Genau. Nur dass es illegal ist. Identitätsbetrug. Wenn ein Kind dabei ist, helfen wir ihnen auch, an einen anderen Ort zu ziehen. Aber dann ist es eine Entführung.«
Die Geheimniskrämerei. Die geübte Art, auf die sie Aufmerksamkeit von sich ablenkte. Colins Bereitschaft, Lenas Geheimnis für sich zu behalten. Natürlich hatte er das angesichts seiner Vergangenheit getan! » Und die Frau und das kleine Mädchen in der Suppenküche?«
» Sie wirkte verängstigt, so als ob jemand hinter ihr her sei. Ich habe ihr die Nummer eines Frauenhauses gegeben, zu dem wir Kontakt haben.« Sie zuckte niedergeschlagen mit den Schultern. » Sie sind dort nicht aufgetaucht.«
Es ergab alles Sinn. Jetzt, da ich wusste, was ich vor mir hatte, entwickelte sich das Bild schnell. » Jill hat einmal etwas gesagt. Über deine Familie. Das hat dich erschreckt.«
» Sie redet doch ständig darüber, dass ihr Vater mit dem Staatsanwalt befreundet ist.«
» Du wolltest nicht, dass sie auf deine Familie aufmerksam wird.« Das Gefühl kannte ich gut.
Sie schnitt eine Grimasse. » Ich weiß, dass es paranoid klingt…«
Ich schüttelte den Kopf. » Es klingt vorsichtig. Wie steht dein Vater dazu?«
» Er ist mit dabei. Er ist Strafverteidiger.«
» Deshalb hast du das Protokoll aus dem Prozess meines Vaters so gut verstanden.« Sie hatte die Situation besser durchschaut, als mir klar gewesen war. » Weiß deine Mutter, dass du mir davon erzählst?«
»
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