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Der Weg in die Verbannung

Der Weg in die Verbannung

Titel: Der Weg in die Verbannung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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man unter dem Gitter durchfahren konnte. Die Käfige, die alle auf Wagen transportiert werden mußten, waren klein. Die vier Löwen lagen nebenund übereinander in einem Käfig, die beiden Tiger in dem Käfig daneben. Sie hatten nicht Platz genug, um hin- und herzulaufen. So lagen sie da und schauten mit ihren großen Bernsteinaugen durch die engen Lücken zwischen den Gitterstäben.
    Harka betrachtete die Tigerin. Langspeer schlenderte unterdessen durch die Pferdeställe. Er wollte den Schimmel Buffalo Bills besichtigen. Der Junge blieb regungslos an dem Seil stehen, das vor dem Käfigwagen gespannt war, um die Beschauer in gebührender Entfernung zu halten. Er stand so lange ruhig und schaute die Tigerin so lange unverwandt an, bis diese ihren gläsernen Blick endlich einfangen ließ. Sie spielte leise mit den Krallen, die sie eingezogen hatte, aber doch, wenn auch fast unmerklich, rührte.
    Harka war so in seinen schweigenden Gedankenaustausch mit dem Tier versunken, daß er nicht einmal bemerkte, wie zwei Männer hinter ihm stehenblieben. Er bemerkte aber, daß der Blick der Tigerin abirrte und ihre Schnurrbartspitzen zu zittern begannen. Daher drehte er sich um. Hinter ihm standen Langspeer und der Dompteur. Der letztere hatte einen Bademantel übergeworfen.
    »Willst du doch noch zu uns kommen?« fragte er. »Der Direktor und der Inspizient sind ganz verrückt darauf, eine große Nummer aus dir zu machen. Dein Vater könnte eine hohe Gage verlangen, wenn wir nicht gestern abend allesamt arme Leute geworden wären. Der Herr Direktor will Selbstmord begehen, und der Inspizient rauft sich die Haare. Das verfluchte Räubergesindel! Da schuftet man sich ab, und die Banditin geht mit dem Geld durch!«
    Der Dompteur war jetzt am Morgen nicht geschminkt. Harka sah in ein aschfahles Gesicht. Er sah, wie die Augenlider zuckten, er sah die mageren Hände.
    »Warum reizt du die Tiere so?« fragte der Junge. »Sie würden dir viel besser gehorchen und auch mehr lernen, wenn du sie mit Geduld behandelst.«
    »So, das hast du bemerkt. Ich muß die Tiere aber jeden Abend reizen, damit das Publikum auf seine Kosten kommt. Einmal wird es schiefgehen, ich weiß, ich weiß. Was hilft das. Ich bin an die hohe Gage gewöhnt. Willst du dir die Probe ansehen? Ich bin zuerst damit dran.«
    Harka nickte. Die Stallburschen bauten schon den Laufkäfig auf. Die Raubtiere wurden unruhig, denn sie kannten diese Vorbereitungen. Der Dompteur ging mit Harka und Langspeer in das Zelt, wo das große Gitter bereits stand. Hier wurde überall schnell gearbeitet!
    Der Dompteur warf den Bademantel ab und stand nun in einer einfachen Hose und einem Trikothemd vor der Käfigtür, die in die Manege führte.
    »Komm«, sagte er zu dem Jungen. »Du kannst ruhig mit hereinkommen. Es passiert nichts!« Der Mann hatte die Peitsche bei sich, aber weder Pistole noch Stange. Er öffnete die kleine Käfigtür, um durch sie hineinzuschlüpfen.
    Harka besann sich keinen Augenblick. Er folgte dem Mann, der bis zur Mitte der Manege ging und dort stehenblieb. Die Raubtiere spielten miteinander, sprangen auf die Hocker und wieder herab, wälzten sich, um sich Bewegung zu verschaffen. Dazwischen äugten sie nach dem fremden Knaben, aber da er sich ruhig und zuversichtlich verhielt, fanden sie ihn vertrauenswürdig. Der zahmste der Löwen, der schon zweimal den Dompteur gestreift hatte, um sich in der Mähne kraulen zu lassen, streifte jetzt auch Harka. Die Tigerin fauchte heiser und zeigte die spitzen Reißzähne.
    »Sie ist eifersüchtig und darum auch unzuverlässig«, sagte der Dompteur und ging zu der gestreiften großen Raubkatze hin. Sie schnappte, mehr mahnend als bösartig, und bewegte die Spitze des langen Schwanzes leicht hin und her. Der Dompteur hielt den Reifen hoch, und sie sprang, aus dem Sande ansetzend, mit einem wunderbaren Sprung hindurch.
    »So wäre es natürlich eine ganz langweilige Nummer«, sagte der Dompteur zu Harka.
    Die Probe mit den Raubtieren dauerte nur eine halbe Stunde, da sie nichts Neues zu lernen, sondern nur die alten Kunststücke zu wiederholen hatten. Harka verließ mit dem Dompteur zusammen den Käfig. »Du bist für den Zirkus geboren, Junge«, sagte dieser, während er die Tür des großen Käfigs schloß und die Löwen und Tiger ganz von selbst den Laufkäfig suchten. »Überlege dir das. Es ist deine Zukunft!«
    »Wirst du heute abend die Tiere wieder reizen und dein Leben für ein so unnützes Spiel wagen?«
    »Heute abend

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