Der Weg ins Dunkel
mit den Flügeln, und ihr zartes Rosa schimmerte bei den diffusen Lichtverhältnissen dunkler als am helllichten Tag. Jian beugte sich über sie und beobachtete jede ihrer Bewegungen. In Gefangenschaft würden sie nicht lange überleben, höchstens zwei, drei Tage blieben ihnen noch. Er musste sie schnell nach Beijing bringen, damit er sie seiner Sammlung einverleiben konnte, solange sie noch schön waren. Exemplare einer so seltenen Art wie diese
Salamis parhassus
durfte man nicht an einem so gottverlassenen Ort wie diesem dahinsiechen und sterben lassen. Sie mussten fort von hier.
Ein gequältes Lächeln umspielte Jians Lippen. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass die Schmetterlinge genauso hilfsbedürftig waren wie er.
Neben dem Käfig stand sein Laptop. Jian klappte ihn auf und öffnete die Internetseite der New Yorker Börse. Dort hatte der Handelstag gerade erst begonnen, aber diverse Telekommunikationsaktien waren bereits auf den tiefsten Stand seit ihrer Emittierung gesunken. Seit China den Launch von Satellitentelefonen angekündigt hatte, befanden sie sich im freien Fall, und inzwischen waren sie kaum noch etwas wert. Schon jetzt hatte er, Jian, mit seinem Börsengeschäft 230 Millionen Dollar verdient. Wenn er noch etwas länger wartete, würde es ihn noch reicher machen.
Von hinten näherten sich schlurfende Schritte, und Jian drehte sich zu Xie um. Zur Abwechslung trug der einmal etwas anderes als seinen verknitterten Leinenanzug, aber er wirkte genauso müde und ungepflegt wie eh und je. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und seine Haare standen, wie üblich, in alle Richtungen von seinem Kopf ab.
Sie nahmen am Esstisch Platz. Jian griff nach der Weinflasche, die neben den Kerzen in einem Kübel stand, und schenkte sich das Glas randvoll. Der Wein war sauer. Jian blickte Xie über den Glasrand an und versuchte gar nicht erst, seine Abscheu zu verbergen. Schließlich wusste er, was dieser nichtswürdige Wurm im Schilde führte: Er zögerte die Zahlung hinaus, solange die Gilde darauf wartete, dass das Gift seine Wirkung tat.
«Wir sollen also weiter warten», sagte Jian.
Xie zuckte nur mit den Schultern und lächelte vage, als die Bediensteten das Essen auftrugen.
«Mit jeder Stunde, die vergeht, steigt das Risiko, dass Mordecai einen Rückzieher macht», sagte Jian vorwurfsvoll. «Trotzdem unternehmen Sie nichts.» Er beugte sich aggressiv vor. «Rücken Sie mit der Sprache raus, Xie! Was ist der wahre Grund für die Verzögerung?»
Er spuckte die Worte regelrecht aus, aber Xie auf der anderen Seite des Tisches schien es nicht das Geringste auszumachen. Er ließ sich das Essen schmecken und tupfte sich nur dann und wann die Mundwinkel mit seiner Serviette ab.
Jian beugte sich noch weiter vor. «Was ist? Sprechen Sie jetzt nicht mehr mit mir?»
Ohne Eile legte Xie Messer und Gabel auf den Teller, dann sagte er: «Herr Kai besteht darauf, alles gründlich zu prüfen, bevor eine so große Summe angewiesen wird. Deswegen sollen wir warten, bis …»
«Was versteht Kai denn davon?», schrie Jian. Langsam konnte man seiner Sprechweise anmerken, dass Tabletten und Alkohol ihre Wirkung taten. «Wenn sämtliche Schürfrechte auf uns übergehen, machen wir ein Bombengeschäft. Wozu also die Verzögerung?»
«Herr Kai hält es für angebracht, die ganze Sache etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.» Wieder tupfte Xie sich die Mundwinkel ab. «Nur für den Fall, dass alles doch etwas anders ist, als es auf den ersten Blick erscheint.»
«Anders?» Jian schlug mit der Faust auf den Tisch. «Was, bitte, soll denn anders sein? Und wie will der alte Krüppel mit seinen dicken Brillengläsern das aus der Ferne erkennen?»
Xie schaute irritiert auf. Eine so unverblümte Beleidigung überraschte ihn. «Vielleicht wäre es besser, wenn Sie das mit Herrn Kai persönlich besprechen. Es würde etwas dauern, aber ich bin mir sicher, dass ein solches Gespräch arrangiert werden kann.»
«Das würde Ihnen wohl gefallen, was? Dann säße ich hier noch länger fest.»
Wieder zuckte Xie mit den Schultern. «Was mir gefallen würde, spielt keine Rolle. Ich werde meine Aufgabe erfüllen und über diese Reise einen Bericht schreiben, nicht mehr und nicht weniger.»
Jian lächelte sarkastisch. Seine Benommenheit war jetzt auch an seiner Körperhaltung zu erkennen. «Sie wissen ja, dass Kai nicht der Einzige ist, der etwas zu sagen hat. Das Geld kommt von verschiedenen Gildenmitgliedern. Wenn er nicht
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