Der Weg zur Hölle
Telefonnummern, unter denen Mechthild und ihr Freund im Notfall zu erreichen seien, zu jeder Tag- und Nachtzeit. Als sie auch noch den Kühlschrank überprüfen wollte, platzte Reemund der Kragen, und er komplimentierte seine Ex-Frau mehr oder weniger höflich zur Tür hinaus.
Belinda hatte die ganze Zeit über mit hängenden Schultern dagestanden, als fühle sie sich wirklich abgeschoben. Das war keine vorteilhafte Ausstrahlung für ein Menschenkind, das äußerlich ohnehin schon so wirkte, als wäre es der Mittelpunkt jedes Schulhofspotts. Sie war nicht älter als zehn, dicklich und dafür viel zu eng und unmodisch gekleidet. Ist das für ein Kind ihres Alters an sich noch nicht so problematisch, gab ihr die Brille den Rest. Ich war mir sicher: Das Optikergewerbe war inzwischen weiter entwickelt, als dass man Kindern noch so dicke Brillengläser zumuten musste. Belinda war ein wandelndes Klischee kindlicher Einsamkeit. Um es kurz zu machen: Sie tat mir leid. Aber ich sollte mich täuschen.
Kaum war die Mutter aus dem Haus, ging ein Ruck durch das Mädchen. Es jauchzte auf und sprang seinem Vater jubelnd vor Glück in die Arme. Reemunds verdutzter Blick verriet mir, dass er die Kleine wirklich nur selten zu sehen bekam und dann wahrscheinlich immer im Beisein ihrer Mutter. So kannte er sie wohl nicht. Binnen Sekunden fiel alle Souveränität von ihm ab, und von dem Moment an schien er vergessen zu haben, wie man einen Fuß vor den anderen setzt.
Nun stand er also in der Küche und brachte sich beim Versuch, eine Zwiebel zu zerkleinern, fortlaufend Verletzungen bei, die er trotz des Blutes standhaft ignorierte. Vielleicht dachte er auch nur, dass so etwas beim Kochen von Tomatensoße ohnehin keine Rolle spielt.
Eine der wenigen Sachen, an die ich mich aus meinem Menschenleben noch erinnere, ist ein recht ödes Buch, das ich irgendwann mal gelesen hatte. So eins, dass man ab dem dritten Tag am Strand liest, wenn einem die Ideen für den restlichen Urlaub ausgegangen sind.
Darin ging es um einen Mann, der nach einem schweren Schädeltrauma die Fähigkeit erlangt hatte, Geister zu sehen. Er bemerkte, dass die meisten ihr Totsein garnicht begriffen hatten und weiter ihren Alltagsbeschäftigungen nachgingen, als ob nichts wäre. Die einen pendelten mit dem Zug in die Stadt, die anderen joggten durch die Parks, jäteten Unkraut, kochten Essen für die Familie, und so weiter. Sobald ihnen jedoch klar wurde, was mit ihnen los war, wurden sie grantig und drangsalierten Angehörige. Wie ich inzwischen hoffentlich ausreichend klar gemacht habe, ist das Blödsinn, da wir an die Lebenden nun Mal nicht herankommen. Und wenn es möglich wäre, hätten wir wahrscheinlich Besseres zu tun.
Und doch, gerade unsere Hobbys sind letztendlich nur ein Ausdruck dafür, dass wir uns aller Erkenntnis zum Trotz weigern, tot zu sein. Da sammeln wir den größten Datenmüll an, aber wenn man uns fragt, wozu eigentlich, dann tun wir so, als hätten wir es nicht gehört. Oder noch schlimmer, wir antworten: »Wer weiß, wozu es gut ist?«
Wenn mir solche Gedanken kommen, stelle ich mir immer Leute vor, die sich zu Lebzeiten nichts versagt haben und den Tod freudig als das größte Abenteuer erwarten. Die müssen sich doch verarscht vorkommen, wenn sie hier aufwachen! Oder die Selbstmörderin aus Zürich, deren Geist mir eines Tages begegnete. Die hatte natürlich auch keine Erinnerung an ihren Tod, aber es war ihr immerhin gelungen, Informationen über die Umstände ihres Ablebens in einer weggeworfenen Zeitung zu finden. Als sie mir davon erzählte, lächelte sie verlegen und sagte, sie hätte absolut keine Ahnung, warum sie das getan haben könnte. Und jetzt sei es ihr nur noch peinlich. Peinlich! Die Herbeiführung des eigenen Todes!
Weder Geister noch Lebende wissen eigentlich, was sie tun. Und wenn es hart auf hart kommt, ignorieren auch wir die Konsequenzen.
Deshalb konnte ich Reemund gut verstehen, als er weiter hartnäckig an der Zwiebel herumhackte, obwohl die inzwischen knallrot war.
Belinda hatte keine große Lust, Nudeln mit Blutsoße zu essen. Sie schob ihren Vater kurzerhand beiseite, entsorgte die Schweinerei, nahm eine neue Zwiebel und bearbeitete sie so professionell, wie es ein Kind dieses Alters bei Weitem nicht können muss. Vielleicht erforderte es viel Selbständigkeit, eine alleinstehende Strafrichterin als Mutter zu haben.
»Hast du viele Freunde?«, fragte Reemund, der hilflos daneben stand und seine Schuhe voll
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