Der Weg zurück
Tischdecke. So, im Juli, denke ich, im Juli – da haben wir in den letzten fünf Tagen sechsunddreißig Mann verloren. Doch ich weiß kaum noch von dreien, wie sie heißen, so viele kamen später noch dazu. »Was hat er denn gehabt?«, frage ich, ein bisschen schläfrig von der ungewohnten Wärme des Zimmers, »Splitter oder Gewehrschuss?«
»Aber Ernst«, erwidert mein Vater verwundert, »er war doch gar kein Soldat! Lungenentzündung hat er gehabt.«
»Ach, richtig«, sage ich und setze mich auf meinem Stuhl zurecht, »das gibt’s ja auch noch.«
Sie berichten weiter, was seit meinem letzten Urlaub passiert ist. Der Schlächter an der Ecke ist von hungrigen Frauen halb tot geschlagen worden. Einmal, Ende August, hat es für jede Familie ein ganzes Pfund Fisch gegeben. Der Hund von Doktor Knott ist weggefangen und wahrscheinlich zu Seife verarbeitet worden. Fräulein Mentrup hat ein Kind gekriegt. Die Kartoffeln sind wieder teurer geworden. Nächste Woche soll es vielleicht auf dem Schlachthof Knochen zu kaufen geben. Die zweite Tochter von Tante Grete hat im vorigen Monat geheiratet, einen Rittmeister sogar. –
Draußen klopft der Regen an die Scheiben. Ich ziehe die Schultern hoch. Sonderbar, wieder in einem Zimmer zu sitzen. Sonderbar, zu Hause zu sein. –
Meine Schwester hält inne. »Du hörst ja gar nicht zu, Ernst –«, sagt sie erstaunt.
»Doch, doch«, versichere ich und raffe mich rasch zusammen, »einen Rittmeister, natürlich, einen Rittmeister hat sie geheiratet.«
»Ja, stell dir vor, das Glück«, fährt meine Schwester eifrig fort, »dabei hat sie doch das ganze Gesicht voll Sommersprossen! Was sagst du nur dazu?«
Was soll ich schon dazu sagen – wenn ein Rittmeister eine Schrapnellkugel ins Gehirn kriegt, ist er ebenso erledigt wie andere Menschen auch.
Sie sprechen weiter, doch ich kann meine Gedanken nicht recht zusammenhalten. Immer wieder schweifen sie ab.
Ich stehe auf und sehe aus dem Fenster. Ein paar Unterhosen hängen auf der Leine. Sie flattern grau und träge in der Dämmerung. Das unsichere Halbdunkel der Bleiche flackert – und plötzlich steigt schattenhaft und fern ein anderes Bild dahinter herauf – flatternde Wäsche, eine einsame Mundharmonika im Abend, ein Vormarsch im Zwielicht – und viele tote Neger in fahlen, blauen Mänteln, mit zerborstenen Lippen und blutigen Augen – Gas. Das Bild ist einen Augenblick ganz deutlich, dann schwankt es und schwindet, die Unterhosen flattern hindurch, die Bleiche ist wieder da, und ich spüre hinter mir wieder das Zimmer mit Eltern, Wärme und Geborgenheit. Vorbei, denke ich erleichtert und wende mich rasch ab.
»Weshalb bist du nur so zappelig, Ernst«, fragt mein Vater, »du hast noch keine Viertelstunde hintereinander ruhig gesessen.«
»Vielleicht ist er übermüdet«, meint meine Mutter.
»Nein«, antworte ich etwas verwirrt und denke nach, »das nicht. Aber ich glaube fast, ich kann nicht mehr so lange auf einem Stuhl sitzen. Im Felde hatten wir keine, lagen wir immer herum, wie es gerade traf. Ich bin es einfach nicht mehr gewöhnt.«
»Komisch«, sagt mein Vater.
Ich zucke die Achseln. Meine Mutter lächelt. »Warst du schon in deinem Zimmer?«, fragt sie.
»Noch nicht«, erwidere ich und gehe hinüber. Mir schlägt das Herz, als ich die Tür öffne und im Dunkeln den Geruch der Bücher atme. Hastig knipse ich das Licht an. Dann blicke ich mich um. »Es ist alles genau so geblieben«, sagt meine Schwester hinter mir.
»Ja, ja«, antworte ich abwehrend, denn ich möchte jetzt lieber allein sein. Doch die andern kommen auch schon. Sie bleiben in der Tür stehen und blicken mich aufmunternd an. Ich setze mich in den Lehnstuhl und lege die Hände auf die Tischplatte. Sie fühlt sich glatt und kühl an. Ja, alles ist so geblieben. Da liegt sogar noch immer der Briefbeschwerer aus braunem Marmor, den mir Karl Vogt geschenkt hat. Er hat seinen Platz wie früher neben dem Kompass und dem Tintenfass. Aber Karl Vogt ist am Kemmel gefallen.
»Gefällt dir das Zimmer nicht mehr?«, fragt meine Schwester.
»Doch«, sage ich zögernd, »aber es ist so klein. –«
Mein Vater lacht. »Es war doch früher genauso.«
»Das wohl«, gebe ich zu, »aber ich habe gemeint, es wäre viel größer. –«
»Du warst so lange nicht hier, Ernst«, sagt meine Mutter.
Ich nicke. »Das Bett wird noch frisch überzogen«, fährt sie fort, »da musst du jetzt nicht hinsehen.«
Ich taste nach meiner Rocktasche. Adolf Bethke hat mir
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