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Der weibliche Weg Gottes

Der weibliche Weg Gottes

Titel: Der weibliche Weg Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Gerland
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er allein ist in seiner Not, will selbst nicht allein sein in meiner Not. Wenn ich es nicht tue, habe ich ein schlechtes Gewissen, verstoße gegen Ethik, Moral, Recht, meine Maxime, was auch immer. Ein Teil ist immer auch von mir.
    Ein hoher sittlich-moralischer Wert, andere zu fördern, andere in den Mittelpunkt des eigenen Lebens zu stellen, aber eng verbunden mit den Begriffen Fürsorge und Hingabe, mit denen ich mich jetzt schon seit Tagen in immer neuen Varianten beschäftige, die so viele Widerstände auslösen, dass dahinter nur etwas sein kann, was Angst macht, geschützt werden möchte — aber was?
    Im Buddhismus ist Mitgefühl für alles, was lebt, ein hoher Wert, ein erstrebenswertes Ziel. Fernab von Gefühlsduselei und selbstgerechter Darstellung. Mitgefühl ist Teil der Weisheit, die erkennt, dass Menschen aus Unwissenheit Dinge tun und sich damit in Schwierigkeiten bringen, bei denen andere sagen: Wie konntest du nur?! Und Mitgefühl ist das Fühlen mit anderen, das Aufgeben von Handlungen, die eine Absicht, ein Ziel verfolgen. Deshalb greifen meine Konzepte hier nicht, deshalb habe ich meine Schwierigkeiten mit diesem Begriff. Ich habe gelernt, dass jeder Handlung ein tieferer Sinn zugrunde liegt, auch wenn er für andere noch so verwirrend ist; jeder handelt logisch im Rahmen seines eigenen Systems. Hier geht es um die Handlung — nicht um die Absicht. Irgendetwas fehlt, um den Knoten zu lösen, aber was?

Liebe dich und deinen Nächsten

    Ich habe schon von ihr gehört, bevor wir uns treffen. Es gibt verschiedene Nachrichtensysteme auf dem Camino. In ihrem Fall war das System Vorauseilendes-Wort aktiv. Henny ist die Frau, die gerne allein wandern möchte und nie allein ist, höre ich, bevor ich sie kennen lerne.
    Daneben gibt es noch das System Geschriebenes-Wort. In den Refugios liegen Bücher für Mitteilungen aus und an manchen Wegkreuzungen Zettel mit Steinen beschwert. Bisher habe ich mich kaum dafür interessiert, mit Henny wird ein Spiel daraus: Wer findet zuerst die Nachricht für Henny. Alle, die Henny getroffen haben, hinterlassen einige Zeilen mit Grüßen und Tipps für den Weg. Wie es ihnen geht, wann sie hier waren, mit wem sie unterwegs sind. Und immer wieder liebe und herzliche Wünsche für den Camino. Henny freut sich über jede Nachricht wie ein aufgeregtes Kind und erzählt mir von den Begegnungen.
    Sie ist ein besonderer Mensch, und die Menschen reagieren auf sie, wie ich es bisher hier auf dem Camino noch nicht erlebt habe. So hält uns ein Mann an, weil er einen Kuss haben möchte — gibt aber schnell auf, als wir lachend weiterziehen. Nur wenige Kilometer später versucht es ein anderer. Henny hat gehört, dass es Glück bringen soll, von einem Pilger geküsst zu werden. Vermutlich macht es noch glücklicher, wenn der Pilger weiblich und so hübsch ist wie Henny.
    Wir betreten eine Bar am Weg, um etwas zu trinken und zu essen, sofort verwandelt sich der Wirt von einem kleinen, unscheinbaren Mann zum aufgeregt flatternden Gockel. In Castrojeriz, bei einem Ausflug zur Burgruine, treffen wir oben einen Pilger, für den es nicht reicht, mit uns zu reden. Nein, er möchte auch noch Bewunderung. So balanciert er auf der Brüstung, gestikuliert, mit dem Rücken zum Abgrund, und macht sich wichtig. Mir scheint, Henny lockt diesen Teil im Manne heraus. Ich fühle mich da ganz unschuldig. Aber immerhin kann ich mittlerweile schon wieder darüber schmunzeln.
    Henny wirkt auf Männer wie ein Topf mit Honig auf Bären. Obwohl sie schon fast erwachsene Kinder hat, verfügt sie über den liebenswerten Charme eines jungen Mädchens. Das Reizende, Lockende, Unschuldige liegt im zugewandten Blick mit kindlich großen Augen. Jeder meint, sie habe nur Interesse an ihm. Wer hat das nicht gern...?
    Sie sieht jede Blume, riecht jeden neuen Duft, fühlt Veränderungen im Licht und staunt wie ein Kind über alles am Weg. Es ist schön, neben ihr zu gehen. Es ist, als hätte ich vorher gar nicht richtig wahrgenommen, als würde sie mir zeigen, was Liebe ist: zu den Menschen, der Natur, dem Camino. Für jeden hat sie ein Lächeln, ein liebevolles Wort. Henny öffnet den Blick für das Besondere und lässt ihr Herz sprechen. Wenn ich am Anfang unserer Begegnung gedacht habe, sie sei die ewige Kind-Frau, so sehe ich jetzt ihre Liebe zu allem, was ihr begegnet. Gleichgültig, ob Mensch, Tier oder Blume. Ihr Staunen über das, was ringsherum passiert. Henny liebt alles und jeden um sich herum, so scheint

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