Der Weihnachtsfluch - Roman
und ging früh zu Bett.
»Gute Nacht«, wünschte sie Emily. Sie stand mit einem Lächeln an der Tür. Ihr Gesicht sah sehr traurig und müde aus, und sie hatte fast dunkelblaue Schatten um die Augen. Sie wirkte, als ob sie am Ende eines langen Weges angekommen wäre und nun keine Kraft mehr hätte. Es gab eigentlich keinen Anhaltspunkt dafür, aber Emily hatte dennoch den Eindruck, dass sie Angst hatte.
»Wenn du mich brauchst, ruf mich bitte«, bot Emily ihr leise an. »Auch, wenn ich dir etwas bringen soll. Ich bin kein Gast hier. Ich gehöre doch zur Familie.«
Tränen stiegen Susannah in die Augen. »Danke«, sagte sie und ging.
Emily schlief wieder sehr gut. Sie war müde gewesen von den neuen Eindrücken und der traurigen Erkenntnis, wie krank Susannah war. Father Tyndale hatte gesagt, dass sie nicht mehr lange leben würde, aber das sagte noch nichts darüber aus, wie schmerzhaft es wirklich war zu sterben. Sie war erst fünfzig, viel zu jung, um
so dahinzusiechen. Sie hätte noch viel unternehmen, viel Freude haben können.
Emily stand zu früh auf, um das Frühstück für Susannah zu bereiten. Sie wusste nicht, wie lange sie warten sollte. Sie machte sich in der Küche eine Tasse Tee, hörte dem Wind zu, der um das Haus fegte und hin und wieder um das Dach herum, zu einem lautstarken Heulen anschwoll.
Sie fasste den Entschluss, das Haus zu erkunden. Es schien keinen Teil zu geben, der rein privat war, und keine der Türen war verschlossen. Sie ging vom Esszimmer zur Bibliothek mit mehreren hundert Büchern. Sie las die Titel und nahm willkürlich das eine oder andere Buch aus dem Regal. Schnell merkte sie, dass mindestens die Hälfte Hugo Ross gehört haben musste. Sie behandelten Themen, für die sich Susannah niemals ohne seinen Einfluss interessiert hätte; Archäologie, Entdeckungen, Meerestiere, Ebbe und Flut und die Strömungen, mehrere Geschichtsbände über Irland. Es gab auch Bücher über Philosophie und große Romanwerke, nicht nur englische, auch russische und französische.
Sie bedauerte, dass sie den Mann, der das alles gesammelt und offensichtlich gerne gelesen hatte, nie kennenlernen würde.
Sie blickte auf den Kaminsims und den kleinen halbrunden Tisch an der Wand. Dort standen kristallene Kerzenleuchter, die vielleicht Susannah gehörten und eine Meerschaumpfeife, die nur Hugo gehört haben konnte. Sie lag da, als ob sie gerade erst ausgemacht worden wäre.
Es gab da noch andere Gegenstände: eine Fotografie im Silberrahmen von einer Familie vor einem kleinen Cottage mit den Bergen Connemaras im Hintergrund.
Als Nächstes ging sie in sein Arbeitszimmer. Eine große Anzahl von Meeresansichten hing an den Wänden, und man roch buchstäblich noch den Pfeifentabak in der feuchten Luft. Auf einem Papierstreifen waren ein paar Farben gemalt, wie ein Merkzettel, neue Farben zu kaufen. Hatte Susannah all diese Dinge absichtlich so liegen lassen, weil sie so tun wollte, als käme er wieder zurück? Vielleicht hatte sie ihn so sehr geliebt, dass sie nicht den Tod fürchtete, sondern etwas ganz anderes, etwas, gegen das es keinerlei Schutz gab.
Wäre Jack gestorben, hätte sie es genauso gemacht? Hätte sie die Erinnerungsstücke an ihn im Haus liegen lassen, als wäre sein Leben so mit dem ihren verwoben, dass es nicht weggerissen werden konnte? Sie wollte die Frage nicht beantworten. Wenn es so kommen würde, wie ertrüge sie es, ihn verloren zu haben? Wenn nicht, welche Erfüllung in der Liebe hatte sie bisher noch nicht erlebt?
Sie ging in die Küche zurück, bereitete ein Frühstück mit gekochten Eiern und geschnittenen Toastscheiben und brachte es Susannah nach oben. Es war ein herrlicher Tag, und der Wind schien nachzulassen. Sie beschloss, die Briefe jetzt aufzugeben. »Ich bin spätestens in einer Stunde zurück«, versprach sie. »Kann ich dir was mitbringen?«
Susannah dankte ihr, brauchte aber nichts, und Emily machte sich auf den Weg entlang der Küste, der sie in
anderthalb Meilen zum Dorfladen führen würde. Es waren fast keine Wolken am Himmel, und in der Luft lag ein eigenartig anregender Geruch, den sie noch nie erlebt hatte, eine Mischung aus Salz und irgendwelchen aromatischen Pflanzen, bitter und angenehm zugleich. Links erstreckte sich das einsame Land bis zu den Bergen am Horizont, der Wind zeichnete immer wieder flüchtige Muster ins Gras, und der Boden bestand aus verschiedenen Farbschichten.
Rechts von ihr brandete das Meer, die einlaufenden Wellen
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