Der Weihnachtsfluch - Roman
schlugen mit ihren weißen Schaumkronen hart auf den Sand. Auf beiden Seiten waren Landspitzen, aber wenn man direkt aufs Meer blickte, sah man nur die tosende See.
Über ihr kreisten die Möwen, deren Schreie sich mit dem Heulen des Windes, der durch das Gras streifte, und dem unablässigen Rauschen des Meeres vermischten. Sie ging etwas schneller und musste unweigerlich lächeln. Wenn die Einheimischen das hier für einen Sturm hielten, war das wirklich harmlos!
Sie erreichte die niedrigen, verstreut liegenden Häuser des Dorfes, die fast alle aus Stein gebaut waren und aus dem Boden herauszuwachsen schienen. Sie ging über die faserigen Torfsoden auf die Straße, bis sie zu dem kleinen Laden kam. Dort warteten schon zwei Leute darauf, bedient zu werden, und hinter der Ladentheke wog eine mollige Frau Zucker ab und füllte ihn in eine blaue Tüte. Die Regale hinter ihr waren mit allen möglichen Waren gefüllt: mit Lebensmitteln, Haushaltswaren und Küchentüchern.
Alle hörten auf zu reden und drehten sich zu Emily um.
»Guten Morgen«, sagte sie fröhlich. »Ich bin Emily Radley, die Nichte von Mrs. Ross. Ich besuche sie über Weihnachten.«
»Ah, Sie sind die Nichte?«, lächelte sie eine große hagere Frau an, die mit einer Hand eine graublonde Strähne wieder unter die Haarnadel schob. »Die Enkelin meiner Nachbarin sagte schon, dass Sie kommen würden.«
Emily verstand nicht ganz.
»Bridie Molloy meine ich«, erklärte ihr die Frau. »Und ich bin Kathleen.«
»Schön, Sie kennenzulernen«, antwortete Emily. Sie war sich nicht sicher, wie sie die Frau ansprechen sollte.
»Ich bin Mary O’Donnell«, sagte die Frau hinter der Ladentheke. »Womit kann ich Ihnen dienen?«
Emily zögerte. Sie wusste, dass sie sich auf keinen Fall vordrängen durfte. Sie merkte jedoch, dass alle neugierig waren, was sie wollte. Sie lächelte. »Ich möchte nur ein paar Briefe aufgeben. Damit meine Familie weiß, dass ich gut angekommen und freundlich empfangen worden bin. Selbst das Wetter ist recht mild. Zuhause ist es sicher viel kälter.«
Die Frauen sahen sich an und blickten dann zu Emily.
»Jetzt ist es noch angenehm, aber das wird sich bald ändern«, sagte Kathleen grimmig.
Mary O’Donnell stimmte ihr zu, und die dritte Frau, eine jüngere mit rotblondem Haar, biss die Lippen zusammen und nickte. »Ein Unwetter zieht auf«, sagte sie schaudernd. »Ich kann das am Wind hören.«
»Immer zu genau derselben Zeit«, sagte Kathleen ru hig.
»Aber der Wind hat doch nachgelassen«, wandte Emily ein.
Erneut sahen sie sich an.
»Es ist die Ruhe vor dem Sturm«, sagte Mary O’Donnell leise. »Sie werden schon sehen. Dort hinten braut sich etwas zusammen.« Sie zeigte nach Westen auf die unendliche Weite des Ozeans. »Geben Sie mir Ihre Briefe. Wir schicken sie lieber los, solange es noch geht.«
Emily war etwas erstaunt, dankte ihr, bezahlte das Porto und wünschte allen einen guten Tag. Wieder draußen in der klaren Luft machte sie sich auf den Rückweg und sah sofort die schlanke Gestalt eines Mannes, der sich langsam fortbewegte, ab und zu stehen blieb und auf die See blickte. Ohne Eile holte sie ihn ein.
Weil er so leichtfüßig ging, hatte sie ihn von weitem für einen jungen Mann gehalten, aber jetzt, als sie sein Gesicht sah, schätzte sie ihn auf ungefähr sechzig. Der Wind hatte sein fahles Haar zerzaust und seine ausgeprägten Gesichtszüge waren von tiefen Falten geprägt. Als er sie anblickte, sah sie seine leuchtend grauen Augen.
»Sie sind sicher Susannahs Nichte. Wundern Sie sich nicht«, stellte er belustigt fest. »Das hier ist ein kleines Dorf. Jeder Neuling wird sofort wahrgenommen. Wir alle mögen Susannah. Sie wäre Weihnachten bestimmt nicht alleine gewesen, aber das ist ja nicht dasselbe wie wenn jemand aus der Familie da ist.«
Emily hatte das Gefühl, sie müsste sich rechtfertigen, als ob sie und Charlotte für Susannahs Situation verantwortlich
wären. »Sie war diejenige, die fortging«, antwortete sie, merkte aber gleich, wie kindisch das klang. »Unglücklicherweise haben wir, als mein Vater starb, den Kontakt nicht aufrechterhalten.«
Er lächelte zurück. »So was kommt vor. Frauen ziehen mit dem Mann, den sie lieben, weg, und es ist oft schwierig, die Entfernung zu überbrücken.«
Sie standen am Ufer, der Wind zerrte an den Haaren und an der Kleidung. Es war ein heftiger, aber warmer Wind. Nichts Bedrohliches. Vielleicht waren die Wellen etwas höher als bei ihrem Hinweg,
Weitere Kostenlose Bücher