Der Weihnachtspullover
mir leidtat. Jetzt würde sie es niemals erfahren.
»Oh, Eddie.« Tante Cathryn umarmte mich ganz fest. Ihre Augen waren geschwollen und rot und ihre Stimme untypischerweise leise und weich. »Es tut mir ja so leid.« Sie versuchte, noch mehr zu sagen, aber ihre Worte ergaben keinen Sinn.
Mrs. Benson und die anderen aus dem Pflegeheim waren ebenfalls gekommen. Aber dieses Mal gab es kein Wangenkneifen oder Singen, nur Tränen und liebevolle Umarmungen. Ich fragte mich, ob ich jemals einen von ihnen wiedersehen würde.
Großmutter sagte, es würde mich zu traurig machen, wenn ich Moms Hand anfasste, aber das war mir egal. Noch trauriger, als ich ohnehin schon war, konnte ich nicht werden. Ich ging zu ihrem Sarg. Sie kam mir unwirklich vor. Sie sah nicht wie meine Mutter aus – eherwie eine dieser Schaufensterpuppen, die sie bei Sears immer angekleidet hatte. So still. So friedlich. Die weiche Hand, mit der sie mir immer das Haar aus der Stirn gestrichen hatte, lag nun leblos auf ihrer Brust und hielt einen Rosenkranz. Sie trug ein Kleid, das ich noch niemals gesehen hatte, und Make-up, das sie sich bestimmt nicht selbst gekauft hatte.
Ich streckte die Hand aus, um sie zu berühren, und bemerkte, dass ich meinen Weihnachtspullover trug. Ich konnte mich gar nicht daran erinnern, dass ich ihn angezogen hatte.
Mir war nach Weinen zumute. Genau genommen hatte ich das Gefühl, ich sollte weinen, aber während ich so dastand und die Hand meiner Mutter hielt, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass ich nur Wut empfand. Ich war wütend auf viele Menschen, aber auf niemanden so sehr wie auf Gott. Er hatte mir nun Vater und Mutter genommen. Warum? Womit hatte ich das verdient? Gott hätte sie vor Krankheiten und Autounfällen bewahren können, aber er hatte es nicht getan. Gott hätte meine Gebete erhören können, aber er hatte es nicht getan. Gott war nicht da gewesen, als mein Vater ihn um eine zweite Chance angefleht hatte. Und er war nicht da gewesen, als sich meine Mutter eine gesegnete Weihnacht gewünscht hatte. Und ganz offensichtlich war er auch jetzt nicht da.
Großvater musste wohl die Veränderung in mir gespürthaben, denn gerade als ich kurz davorstand, unter der Last all dessen, was ich durchgemacht hatte und was ich noch durchmachen würde, zusammenzubrechen, legte er seine starken Arme um mich, zog mich an sich und flüsterte mir die Worte zu, die ich zu der Zeit nicht verstand, die mir aber seither immer gegenwärtig sind: »Es wird alles wieder gut.«
Aber er musste sich irren, denn alles, was ich einmal geliebt hatte, lag nun in einem Sarg, wie sollte da alles wieder gut werden? Wie sollte jemals wieder irgendetwas gut werden?
Die Monate nach dem Tod und dem Begräbnis meiner Mutter verdichteten sich zu einem einzigen Punkt. Ich wusste, dass ich da war, aber meine Erinnerungen waren wie Geschichten von jemand anders. Diese Verworrenheit hielt lange an. Ich kam mir wie ein Zuschauer des Lebens vor, ohne selbst wirklich daran teilzunehmen.
Ich zog auf die Farm meiner Großeltern. Mein Zimmer dort sah meinem alten Zimmer sehr ähnlich, bloß dass es an der Decke keine Wasserflecken gab und ich morgens durch mein Fenster die Hühner hören konnte und nachmittags die Kühe. Im Haus meiner Großeltern roch es vierundzwanzig Stunden am Tag nach Speck und frischemBrot, Gerüche, die mich immer daran erinnerten, wo ich war und warum.
Ich überließ mich schon bald ganz und gar meinem Kummer und versank immer tiefer darin. Das war im Grunde ganz leicht. Gott hatte es offensichtlich auf mich abgesehen, und jetzt blieb mir jede Menge Zeit, um mich zu fragen, warum dies so war.
Anfangs riefen meine alten Freunde noch an, um zu hören, wie es mir ging, aber die Tatsache, dass wir nun so weit voneinander entfernt wohnten und uns nicht mal eben mit dem Fahrrad besuchen konnten, machte ein Treffen schwierig. Außerdem hatte ich ohnehin kein Fahrrad, das ich hätte benutzen wollen.
Tante Cathryn rief auch ein paarmal an, aber die Gespräche waren peinlich, da keiner von uns so richtig wusste, worüber wir ohne Mom miteinander reden sollten. Und da Ferngespräche nun einmal ein Luxus waren, dauerte es nicht lange, und wir verloren den Kontakt.
Großvater und ich unternahmen immer noch Fahrten in die Stadt, um Futter oder Draht zu kaufen oder was immer auf dem Zettel stand, den er sich in die Hemdtasche gesteckt hatte. Er hatte sich nicht verändert, ich aber schon. Meine Stimmung war düster. Ich
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