Der Weihnachtspullover
grasbewachsenen Stück zwischen der weißen Linie und dem Abflussgraben. Als sich meine Augen an die noch herrschende Dunkelheit vor Tagesanbruch gewöhnt hatten, sah ich die Öffnung von Russells überwucherter Auffahrt. Das Knirschen der Fahrradkette und der Reifen waren die einzigen Geräusche, die ich anfangs vernahm. Der Wind, der durch die kahlen Bäume strich, schloss sich dem Chor an. Sonst war da nichts weiter außer dem Geräusch meines eigenen Atmens.
In Russells Haus war alles dunkel. Ich schaltete meine Taschenlampe wieder ein, schritt ein Stück die Auffahrt hinauf, um dann Richtung Pferch abzubiegen. Ich erwartete, in dem schwachen gelben Lichtstrahl eine schlafende Stute zu entdecken. Doch der Pferch war leer.
Ich parkte das Fahrrad neben dem Haus und erklommvorsichtig die Verandastufen. Irgendetwas stimmte mit dieser Stille nicht. Ich richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Stelle, wo eigentlich das Windspiel hätte hängen sollen, aber da war kein Windspiel. Ich schaltete die Taschenlampe aus und schaute durch das Fenster, versuchte, irgendwelche Zeichen von Leben im Haus zu entdecken. Ohne Erfolg. Ich richtete den Lichtstrahl auf den großen Baum, wo wir auf der Parkbank gesessen hatten, doch sie war verschwunden.
Ebenso wie Russell.
Nun, da Russell fort war, würde ich in diesem blöden Kaff nichts und niemanden mehr vermissen. Ich ging zu meinem Fahrrad zurück, folgte dem Mond die Auffahrt hinunter zur Hauptstraße und machte mich auf den Weg Richtung Stadt. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich ganz und gar frei. Und es fühlte sich großartig an.
Nachdem ich ein paar Minuten in die Pedale getreten hatte, kam Taylors Auffahrt in Sicht. Ich war froh, dass ich keine Zeit hatte, die Wut herauszulassen, die in meinem Magen rumorte, denn sonst hätte der Briefkasten der Ashtons dran glauben müssen.
Stattdessen strampelte ich weiter. Die Tatsache, dass ich mich nicht von Taylor verabschiedet hatte, musste alsRache genügen. Vor mir erblickte ich die schmale, unbefestigte Straße, von der er mir erzählt hatte. Ich steuerte mein Fahrrad darauf zu. Der aus Erde und Schotter bestehende Feldweg war tief zerfurcht und wurde auf beiden Seiten von einer dichten, grauen Wand aus vertrockneten und abgestorbenen Maisstängeln gesäumt. Während ich weiterfuhr, wichen die vertrauten Farmen unbekannten Fluren. Der Himmel war jetzt klar, und das Mondlicht half mir dabei, den tieferen Furchen des Weges auszuweichen. Keiner wird mich jemals finden, dachte ich. Es sucht mich ja ohnehin niemand. Der Gedanke erfüllte mein Herz mit Zorn.
In der Abgeschiedenheit des Maisfelds vermochte ich zu sagen, was immer ich wollte, und niemand konnte mich hören. Niemand außer Gott. Es war eine Gelegenheit für mich, um meiner Wut Luft zu machen.
»Ich hasse dich!«, schrie ich. Der Nachthimmel schien meine Worte zu schlucken. Es gab nicht einmal ein Echo. Ich trat schneller in die Pedale. »Ich habe dich gebeten, meiner Mutter dabei zu helfen, glücklich zu sein, aber das konntest du ja nicht. Stattdessen hast du sie mir weggenommen, als ich sie am dringendsten gebraucht habe. Mein Dad war ein guter Mann, aber das war dir ja völlig egal.« Ich verstummte, als erwartete ich eine Antwort. Aber es kam keine. Meine Wut ließ mich immer fester in die Pedale treten.
Ich fühlte mich so allein. Diese Schreie ins Nichts waren das Einzige, was mich tröstete. »Ich habe dich bloß um dieses blöde Fahrrad gebeten, aber selbst das war ja zu viel für dich. Du bist nichts weiter als ein Betrüger! Ich hasse dich!«
In diesem Moment hallten die Worte durch die Maisstängel und in meinem Kopf wider. Sie schienen von überallher und nirgends zugleich zu kommen. Die Stimme ähnelte sehr der meinen, aber meine Gedanken hatten niemals eine solche Kraft und Klarheit besessen.
» Manchmal hat man das, was man sich am meisten wünscht, direkt vor der Nase, aber um es zu bekommen, darf man sich nicht selbst im Weg stehen. «
Ich biss die Zähne zusammen und stellte mich auf die Pedalen. »Das ist nicht meine Schuld!«, schrie ich so laut ich nur konnte und trampelte noch schneller – ganz so, als versuchte ich die Stimme einzuholen. Plötzlich blieb mein Vorderreifen in einer Furche hängen, und das Rad schleuderte seitlich über den Weg. Ich schrie, als ich zu Boden stürzte. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich dort gelegen habe, aber als ich mich schließlich aufsetzte, war der Mond verschwunden. Doch die Stimmen
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